Blut ist dicker als Wasser

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Kinder wie Michael und Julian wurden normalerweise nicht adoptiert. Die beiden Findelkinder waren Brüder, ungefähr 10 und 11 Jahre alt; Julian war dazu eine schwierige Persönlichkeit. Die Frau des Senators wusste offenbar genau was sie tat. Ich bin selbst adoptiert und darum weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn man im Waisenhaus zurückbleiben muss, versichert sie dem Heimleiter. Das "eiserne Haus" liegt weit vom nächsten Ort in den Bergen North Carolinas. Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg war hier eine Nervenheilanstalt, in der u. a. traumatisierte Soldaten untergebracht wurden. Angesichts der verbarrikadierten ungenutzten Gebäudeflügel mit unheimlichen Überresten aus Zeiten, in denen es wohl kaum psychiatrische Behandlung gab, kann man sich wirklich gruseln. Im eisernen Haus herrscht das Recht des Stärkeren. Besonders Julian ist ein willkommenes Opfer für die Clique jugendlicher Krimineller, die - weitgehend sich selbst überlassen - das Regiment über die Kinder führt. Wer Julian misshandelt, trifft damit immer gleich auch Michael. Am Tag, als die Brüder von Abigail Vane gegen ein großzügige Spende an das Heim abgeholt werden sollen, kommt es im eisernen Haus zum Mord an einem der schlimmsten Quälgeister. In der Folge läuft einer der Brüder im Schneesturm davon und nur einer wird von den Vanes adoptiert.

25 Jahre später liegt in New York Otto Kaitlin im Sterben, ein Gangster alter Schule und Oberhaupt einer mafiösen Gruppe. Kaitlin hat einen leiblichen Sohn Stevan und Michael, den er mitten aus einer Messerstecherei auf der Straße aufgelesen hat. Michael war vermutlich so, wie der Alte sich einen Sohn gewünscht hätte. Otto fühlte sich wegen seiner eigenen schweren Kindheit Michael besonders nah. Stevan und Michael wachsen wie Brüder auf. Nach Ottos Tod wird es zwischen ihnen um Ottos Nachfolge und um sein Vermögen einen knallharten Verteilungskampf geben. All die Jahre arbeitete Michael als Ottos Auftragskiller; stets so unauffällig, dass über seine Existenz zwar gemunkelt wurde, sie jedoch nicht zu beweisen war. Nun will Michael aussteigen. Er hat sich in Elena verliebt, die aus Spanien stammt - und Elena ist schwanger. Elena ist nicht Michaels einziger schwacher Punkt gegenüber Stevan und Ottos Fußsoldaten. Ein Anruf verkündet Michael: "Dein Bruder ist der Nächste". Als das Restaurant, in dem Elena arbeitet, im Stil eines Terroranschlags zerstört wird, sitzt Michael in der Klemme - er muss die schwangere Elena in Sicherheit bringen und sich augenblicklich um Julian kümmern, der als Erwachsener noch immer im Hauhalt der Vanes lebt.

Aus dem Motiv der getrennt aufgewachsenen Brüder entwickelt John Hart einen rasanten Thriller, in dem die Opfer reihenweise in explizit geschilderten Szenen wie Bowling-Figuren umgenietet werden. Ottos Männer sehen in ihren Opfern keine Menschen, sie "töten keine Zivilisten". Meine Ewartung, dass in Harts Thriller die unterschiedliche Entwicklung der beiden Männer im Mittelpunkt stehen würde, wurde nur teilweise erfüllt. Für Abigail Vane scheint Julians Adoption zeitweilig ein Werkzeug in der subtilen Auseinandersetzung mit ihrem prominenten Mann gewesen zu sein. Für die Enwicklung der Handlung bleibt Julian leider eine blasse Nebenfigur, über die Vermutungen und Interpretationen angestellt werden können. In weiteren Nebenrollen eine unheimliche Frau und deren wilde Tochter im Teenageralter, die auf Vanes Grund Wohnrecht haben und Jessup, Abigails persönlicher Fahrer und Beschützer. Nach weiteren Todesfällen im Umkreis der Vanes stellt sich die Frage, ob ein Unbekannter, dem offenbar unbegrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, Vane kurz vor Beginn der Kongresswahlen zu Fall bringen will.

Das Motiv der ungleichen Brüder hat mich auf John Harts vierten in Deutschland erscheinenden Roman neugierig gemacht. Das labile Gleichgewicht zwischen Otto Kaitlins Ziehsohn und seinem leiblichem Sohn und auch die beim Leser angestoßene Vermutung, die Person könnte noch am Leben sein, die damals die beiden kleinen Jungen aussetzte, liefert den idealen Plot für einen Thriller. "Das eiserne Haus" fand ich jedoch nicht spannend genug, um dafür - wie bei einem Nesboe - die Nacht durchzulesen. Grund dafür sind Längen im Text, logische Schwächen (an den blutstarrenden Tatorten werden zwar von den Tätern Waffen, Dokumente und Fotos eingesammelt, zurück bleiben zur Freude der Spurensicherung aber massenhaft weitere Spuren) und eine Reihe von sprachlichen Mängeln. Seine Erzählerstimme lässt Hart nicht nur über Kaitlins harte Kerle, sondern auch über Jessup, der für Abigail und Julian rücksichtslos töten würde, für meinen Geschmack unpassend pathetisch sprechen. Zu Jessup, der sich sofort von Michael in seiner besonderen Rolle im Haus Vane bedroht sieht, passt einfach keine "Schramme am dunklen Rohdiamanten seiner Seele" (S. 347). Wenn es um Gefühle, Sinneswahrnehmungen, Schuld, Glauben, die Vorsehung oder die Hand Gottes geht, schrammen Harts Sprachbilder haarscharf am Peinlichen vorbei. Möglicherweise klingen einige der idiomatischen Redensarten im englischen Original geschickter oder könnten durch eine weitere Korrektur geglättet werden.

Textausschnitt:
"Die Sonne zog matt über den Himmel von Chatham County, so verloren hinter den schwarzen Wolken, dass Abigail Vane sie kaum bemerkte: eine blasse Erscheinung am lastenden Himmel, eine orangegelbe Ahnung in der stillen Luft, ein Hauch von Farbe, der in den Bäumen hing. Regen fiel senkrecht, das Rauschen im hohen Gras laut genug, um die meisten anderen Geräusche abzutöten, die Tropfen so hart, dass Abigail sie auf den Handrücken und auf dem Kopf spürte. Der Regen brannte in ihrem Gesicht, als das Pferd galoppierte und der Morgen sich dehnte, schwarz und laut und endlos." (S. 108)