Ein Buch, so ausgefallen und besonders wie Charlies Herz und Nase

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Charlie hat es nicht leicht. Seine Mutter interessiert sich nicht wirklich für die Familie, sondern nur fürs Theater, sein Vater ist da, aber ständig bekifft. Charlie hat eigentlich nichts und niemanden, außer seinem Opa. Aber den rafft es ja gleich früh im Buch dahin …! Seine kleine Schwester ist Autistin mit Inselbegabung und inhaliert Bücher. Charlie will weg – obwohl er ahnt, dass das nicht gutgehen kann für den Rest der Familie. Aber sein eigenes Leben soll doch anders laufen und dafür ist er bereit, alles zu tun …

Ein wenig erinnert mich der Schreibstil an Jess Kidd. Hier hat es zwar weniger Mystisches als bei ihr, aber die immer wieder eingestreuten wunderbar konstruierten Sätze, die in sich schon kleine Kunstwerke sind, finden sich in den Büchern dieser Autorin ebenfalls. Damit will ich nicht sagen, dass Sebastian Stuertz diesen Stil kopiert. Nein – aber er beherrscht das ganz genauso gut, auf seine Weise. Man fragt sich immer wieder, ob sein Protagonist Charlie Berg total genial oder einfach nur übergeschnappt ist. Immer wieder gibt es Stellen, an denen man eher an ein ganz weiches, denn ein eisernes Herz denkt. Aber das mit dem eisernen Herz erklärt sich im Laufe des Buches quasi stufenweise dann auch noch ganz speziell.

Stuertz schafft es, völlig absurde Szenen so zu erzählen (bzw. Charlie erzählen zu lassen), dass sie absolut logisch sind. Das macht Spaß zu lesen und fesselt ans Buch. Das mag ich! Auch Szenen, die den Leser abstoßen, bringt der Autor schon fast trocken rüber. Hier merkt man dann auch stark, dass Charlies Story in den 1980ern angesiedelt ist. Jugend und Kindheit waren damals anders als heute. Junge Leser werden sich nicht daran erinnern und sich schwerer damit tun, ältere Leser werden eine kleine „geistige Zeitreise“ machen können.

Angesiedelt ist die Jetztzeit der Story Anfang der 1990er Jahre. Das genaue Alter von Charlie, der die Story auch erzählt, erfährt man erst im Laufe der Geschichte. Bis dahin kann man nur schätzen. Es ist ein kleines Rechenspiel – sehr gelungener Trick! Charlie hat eine ganz besondere Nase bzw. einen ganz besonderen Geruchssinn. Parfüm spielt im Buch eine große Rolle, Gerüche und Düfte ebenso. Seine Nase verrät ihm viel, er kann damit quasi sehen, was anderen verborgen bleibt. Umso lustiger, wenn er dann so lapidar erwähnt, dass er keine Spuren (im Waldboden) lesen kann, er sei ja kein Fährtenleser.

Immer wieder tauchen Figuren auf, die Charlie zu dem gemacht haben, der er jetzt ist. In Erinnerungen und ausführlichen Rückblenden erfährt der Leser so in kleinen Stückchen mehr über ihn. Andeutungen werden gestreut, die man sich wie ein Puzzle zusammenlegen muss, um das große Ganze zu erkennen. Was es mit dem eisernen Herzen auf sich hat, wird dabei dann auch, wie bereits erwähnt, nach und nach klar.

Man muss Charlie einfach mögen. Er ist so völlig anders. Gleichzeitig stößt aber auch so vieles ab. Es ist eine heftige Gefühlsachterbahn, dieses Buch zu lesen. Schnell mal weglesen ist hier nicht. Das Buch fordert, es provoziert und es strengt heftig an. Ich habe zwischendurch Pause machen und ein anderes Buch lesen müssen. Dann macht es wieder sehr viel Spaß. Keine leichte Lektüre, aber auf alle Fälle lesenswert. Charlie nimmt manchmal einfach heftig viel Anlauf, um eine Sache zu erzählen. Er geht einen riesengroßen Bogen, keine Abkürzungen. Insofern hätte vieles kürzer und knapper geschildert werden können, aber gerade diese Umwege machen das Buch zu dem, was es ist. Sie müssen einfach sein! Dadurch sind die Rückblenden auch nicht immer chronologisch, auch sie springen ein bisschen hin und her. Stück für Stück setzt man als Leser das Puzzle zusammen und beginnt, das große Ganze zu sehen und zu ahnen, worauf es hinauslaufen wird.

Das Ende wartet mit einer ganzen Ladung gut gemachter und überraschender Wendungen auf. Es wird hochspannend, ganz krass im Gegenteil zum weitgehend doch in gewissem Maße gemächlich dahinfließenden Großteil des Buches. Der Kreis schließt sich, für mich auch absolut stimmig und passend.

Die Mischung aus urkomisch und immer wieder auch tief bewegend und sehr traurig ist wortwörtlich „wie aus dem Leben gegriffen“. So abwegig und abstrus manche Szenen sind, erinnern sie mich an eigene Erlebnisse (obwohl diese deutlich „normaler“ waren!). Es kommen alte Gefühle hoch und das strengt an. Aber mit jedem weiteren Abschnitt merke ich auch, dass dieses Buch wahre Medizin ist. Klingt schräg? Ja, klar, ist es auch.

So schwierig dieses Buch teilweise zu lesen ist, so anstrengend und unbequem, genauso gut ist es auch. Wer ein Problem mit immer mal wieder eingestreuten und zugegebenermaßen gern mal unappetitlichen „erotischen“ Szenen hat, muss tapfer da durch. Mir gefallen die auch nicht, aber sie sind nicht ohne Grund im Buch. Ich kann nicht anders: ich gebe fünf Sterne.