Familiengeschichten zum Hirschgulasch

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kleine hexe Avatar

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Um es vorweg zu sagen: Dies ist kein Kochbuch, obwohl ich das Rezept von diesem Hirschgulasch gerne hätte.
Der Hirschgulasch spielt eine zentrale Rolle in der Familie Berg – Del Monte. Aber dieses Buch ist auch kein Familienroman allein, obwohl sämtliche Familienmitglieder darin vorkommen: Die vier Großeltern, die beiden Eltern, Charlie und Fritzi, die beiden Kinder. Auf den ersten Blick scheint dies eine dysfunktionale Familie zu sein, der Vater ein kiffender Musiker, die Mutter Theaterregisseurin mit einem massiven Alkoholproblem, Fritzi ein Savant, die mit vier Jahren schon die städtische Bücherei durchgelesen hat. Und schließlich Charlie Berg der die Familie zusammenhält. Er kocht für die Familie, hält das Haus in Schuss, übernimmt die kleine Fritzi als die Mutter in ganz Europa Regieaufträge annimmt und der Vater sich tagelang in sein Studio für Musikaufnahmen einschließt. Er zieht mit Fritzi um ins Haus der Großeltern als die Großmutter einen Schlaganfall erleidet und übernimmt ihre Pflege. Dysfunktional doch irgendwie halten die Mitglieder doch zusammen, sind füreinander da im entscheidenden Augenblick, unterstützen sich bedingungslos. Und nicht nur strikt die mit verwandtschaftlichen Graden untereinander sondern auch die Freunde die fest zu dieser Familie dazugehören: Stucki, Ditos Freund und das andere Mitglied der Band Toytonic Swing Ensemble; Stuckis Stieftochter Malinche – Mayra; David, Charlies sexbesessener Schulfreund, Laura, die Bibliothekarin die Fritzi bei sich in der Bibliothek aufnimmt und sie alles lesen lässt.
Also gut. Kein Kochbuch aber ein Familienroman. Was noch? Entwicklungsroman? Auf jeden Fall. Zwar kein Tumber Tor der sich zum Gralssuchenden Parzival entwickelt, aber vom schulischen Außenseiter in der Kindheit, der nur im Hause seiner Großeltern und mit Malinche zusammen unbeschwerte Kindheit erleben darf, entwickelt sich Charlie Berg zu einem Mann der die Fäden der Familie fest zusammen hält, Verantwortung übernimmt, über Leben oder Tod von geliebten Menschen aber auch von fremden oder verhassten Menschen fraglos übernimmt.
Also gut: Kein Kochbuch aber ein Familien- und Entwicklungsroman. Ist es ein Roman über eine außergewöhnliche Gabe und Begabung? Charlie Berg hat eine Leidenschaft für Gerüche und Parfüms. Er hat ein außergewöhnliches Riechorgan, besser als die eines Spürhundes. Er kann die Düfte und Gerüche, die ihn umgeben zerlegen, aussortieren, sich auf einige wenige konzentrieren und sie akkurat wahrnehmen. Charlies Nase spielt im Roman eine Hauptrolle.
Also gut: Kein Kochbuch aber ein Familien- und Entwicklungsroman und ein Roman über eine außergewöhnliche Begabung. Ist es ein Roman über den Literaturbetrieb an sich, wie kleine Selbstverlage funktionieren, wie Preise im Literaturzirkus manchmal vergeben werden (Bitte, lasst wenigstens den Nobel-Preis korrekt vergeben werden!) Die ganze Stadt fiebert dem Literaturfestival und -preis Text.Eval entgegen, die Lesungen werden mit großem Interesse allerseits verfolgt, sie sind ungemein wichtig sowohl für den jungen Literaten, der den Preis gewinnt als auch für den „Literaturpaten“ der das Werk des Debütanten fördert und unterstützt.
Also gut: Kein Kochbuch aber ein Familien- und Entwicklungsroman, ein Roman über eine außergewöhnliche Begabung und ein Roman über den Literaturbetrieb der über die Grenzen einer Kleinstadt hinausgeht. Krimi? Oder Thriller? Ja! Beides: Wer ist der Wilderer im Wald? Wieso verschwindet Großvaters Leiche vom Tatort? Wie schafft es der schwerkranke Charlie Berg in einer atemberaubenden Aktion Ramón beim Sterben ein wenig nachzuhelfen? (Von meiner Seite aus: !Hasta nunca! Ramón!). Sehen wir uns mal den Thriller an: das Baumhaus ist fertig, der elfjährige Charlie und die 14jährige Malinche wollen im Wald im Baumhaus übernachten, werden aber von den ärgsten Schulhofschlägern überfallen, das Baumhaus wird in Brand gesteckt, das Mädchen wird fast vergewaltigt, Charlie überlebt nur knapp den Tod. Das Ganze wird so spannend geschildert, dass man mit den Kindern mitfiebert und mitleidet. Oder kurz vor dem Ende des Romans, als Charlie der Polizistin Carla die Hintergründe der Morde, des Plagiatsvorwurf, kurz alles aufdeckt und zur Verhaftung der schuldigen Person führt. Die Szene (wie übrigens alle Buchszenen) ist filmreif und ein Raymond Chandler oder skandinavischer Krimiautor hätten das nicht besser gestalten können.
Sebastian Stuertz ist mit seinem Debüt gleich in die Meisterklasse aufgestiegen. Die ganze Handlungsführung von der ersten zur letzten Seite, die Actionszenen, die Dialoge, die agierenden Personen, alles wirkt natürlich und logisch. Der Spannungsbogen erschlafft an keiner Stelle, noch wird er überzogen. Einige Gestalten finden wir von Anfang an liebenswürdig, wie Malinche – Mayra, wie Charlies Oma, wie die geradlinige Fritzi die nur in Zitaten redet. Andere brauchen etwas, bis sie uns ans Herz wachsen: wie Charlie Berg, der Ich-Erzähler. Zuerst war ich ein wenig abgestoßen, mit welcher Kaltblütigkeit er den erschossenen Opa im Wald beim Hirsch zurücklässt, aber im Nachhinein betrachtet verstehen wir seine Beweggründe, akzeptieren sie und stehen voll hinter Charlie. Oder seine Eltern: Rita del Monte, deren Karriere als Regisseurin vor Familie und vor allem vor den Kindern steht. Nur während der Schwangerschaften verzichtet sie auf weite Reisen, Alkohol und Zigaretten. Aber durch Charlies Trick mit der Kassette aus dem Anrufbeantworter kommt sie zur Besinnung und geht auf Entzug. Der Vater, Dito Berg ist Musiker, ein kiffender Alt Achtundsechziger, der seinem Vater seine NSDAP Vergangenheit nie verziehen hat. Er hat eine „Band“ bestehend aus ihm und seinem Freund Stucki, sie haben sogar Erfolge damit, bringen Platten heraus, sind in Insiderkreisen bekannt. Er zieht sich tage- und wochenlang zurück in sein Studio im Keller, kümmert sich weder um die Kinder noch um das Haus, obwohl er weiß, dass seine Frau abwesend ist. Charlie erledigt praktisch alles: kümmert sich um das Baby und spätere Kleinkind, kocht, putzt, schmeißt den ganzen Haushalt und das neben der Schule.
Die Großeltern sind absolute Gegensätze: Oma ist freundlich, lieb, resolut, tröstet Malinche und hilft ihr als sie zum ersten Mal ihre Regel kriegt. Sie baut mit Charlie und Malinche das Baumhaus und reagiert vernünftig als sie Murat, Mozart und Claudio im Wald erwischt. Hätte sie die Polizei gerufen, wäre aus diesen dreien Kleinkriminelle geworden, ohne Halt im Leben. So werden sie ihren Familien ausgehändigt, die von den Umtrieben der Bande bis dahin nichts wussten und nun ihrerseits Maßnahmen ergreifen können. Opa ein eigenbrötlerischer Mann, trinkt und hat praktisch keinen Kontakt zur eigenen Frau oder zu den Enkelkindern. Das ändert sich radikal als Oma den Schlaganfall erleidet. Als späte Wiedergutmachung hört er mit dem Trinken auf, bringt Charlie sein Jägerhandwerk bei, wird zu dem Opa, der er früher nie war. Wer weiß, vielleicht hätte er es sogar noch geschafft, sich mit seinem Sohn auszusöhnen.
Dann wären da die ermittelnden Polizisten, Carla Bentzin und Dittfurt. Effizient, in einer heimlichen Sexaffäre miteinander verwickelt, kommen sie zu den gleichen Schlussfolgerungen wie Charlie Berg und sind der Lösung der Krimifälle auf der Spur.
Dann wäre da noch die schräge Dr. Helsinki. Kompetent aber schräg. Sie redet in einer verniedlichenden Babysprache mit den erwachsenen Patienten, dass man sich fragen muss, wie fachkundig sie eigentlich ist und ob sie ihr Diplom in der Kita erworben hat.
Eine meiner Lieblingsszenen spielt im Krankenhaus, nachdem Charlie seinen Herztransplant bekommen hat. Er schwebt zwischen Leben und Tod, er kriegt nur olfaktorisch mit, wer ihn besucht, zwischen den Besuchen entschwebt sein Geist aus dem Raum, spricht mit Cernunnos, dem keltischen Gott des Waldes und der Natur. Erst als ihm der gehörnte Gott die Absolution erteilt kann Charlie mit Mayras Hilfe zurück ins irdische Dasein kommen.
Die Schlussszene, als die gesamte Familie samt Freunden beim Hirschgulaschessen zusammen findet, und die letzten losen Enden in diesen wunderschönen Wirkteppich zusammen gefügt werden lässt die Leser aus dem Buch auftauchen, sich umsehen und zurück ins Buch eilen: war das wirklich alles? 714 Seiten sind nicht genug. Bei weitem nicht. Wird Ramon nie aus der Versenkung auftauchen? (Achtung Wortspiel). Wird die adoptierte Gräfin noch Ränke und Intrigen schmieden? Wird Mayra je die volle Wahrheit über Ramon erfahren und wie wird sie darauf reagieren? Und vor allem wird Charlie seine wunderbare Gabe auch nach der Herz-OP behalten?