Originell, verrückt, traurig, abgedreht - unfassbar gut!

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miss_atticos Avatar

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90er Jahre - Charlie Berg ist ein außergewöhnlicher junger Mann. Er hat ein schwaches Herz und eine feine Nase. Er will von zuhause ausziehen, an die See, und einen Roman schreiben. Aber bevor er in Ruhe sein Buch schreiben kann, kommt ihm ein "familiärer" Kriminalfall und sein eigenes kurioses Leben dazwischen. Auf der Jagd wird nicht nur ein Hirsch getroffen, sonder auch sein Opa. Und dann taucht auch noch Mayra auf - seine langjährige Brieffreundin aus Mexico. Auf rund 700 Seiten bekommt man alles, was das Herz begehrt: ein bisschen Liebe, ein bisschen Krimi, viele schmutzige Gedanken, viele völlig abgedrehte Szenen. Keine Zeile ist zu viel. Es ist wie eine Sucht. Abhängigkeit erreicht hier ein vollkommen neues Level. Skurril, derb, pervers, kantig, laut und leise, herzerwärmend und erfrischend (außer wenn Opa pupst), spritzig wie Sekt, rasant. Lieblingsstellen im Buch? Das ganze Buch ist eine einzig große Lieblingsstelle (bis auf ein zwei Ausnahmen, die mir eindeutig zu ausufernd waren - aber das ist sicherlich Geschmackssache). Die im Buch genannten Musikstücke fügen sich wunderbar und gekonnt ins Geschehen ein, es hat mich alles noch einmal intensiver erleben lassen. Sehen, hören, riechen, fühlen, schmecken. Hirschgulasch. Eine Story für alle Sinne. Schmerz.
Die tragische Person ist Charlie, die Komik dabei übernehmen hauptsächlich andere. Als alleinerziehender Sohn seiner autistischen Schwester wird ihm auch Einiges abverlangt. Seine Schwester Fritzi ist ein Highlight. Ein Bücherwurm durch und durch verbreitet sie zu allen möglichen Gelegenheiten passende Buchzitate. Die Mutter vermittelt den Kindern kaum bis gar keine Liebe, sie lebt für das Theater. Der Vater zieht lieber einmal mehr am Joint. Mit einer verkorksten Mutter und einem kiffenden Vater ist Charlie's Lebensweg bereits im Vorfeld vorgezeichnet. Trotz aller Tragik musste ich oftmals schmunzeln, einige Male sogar laut auflachen. Die 90er Jahre - Wahn und Wirklichkeit. Manches Mal dachte ich, ich befände mich in einem 70er Jahre Drogenfilm. Sobald man Charlie's Gefühlswelt kennenlernt, wird es stiller, einsamer und trauriger. Ein Wechselbad der Gefühle, eine regelrechte Achterbahnfahrt. In der einen Sekunde einfach nur crazy und schockierend, in der nächsten Sekunde wird einem das Herz gebrochen. Neben all der Skurrilität, ist da auch ganz viel Traurigkeit, die überwunden werden muss. Ich liebe verrückte Geschichten und sonderbare Figuren. Als kleiner Fan von Jack Burns und Oskar Matzerath, war ich gespannt, ob sich auch Charlie Berg in mein Herz schleichen kann. Und er konnte es - und wie! Im Laufe der Zeit liest man einige Bücher und einige Geschichten verstecken sich gänzlich hinter Nebel. Doch diese sicher nicht. Sebastian Stuertz versteht sein Handwerk und versteht es meisterlich mit allen Sinnen die Erlebnisse seiner Figuren an die Leserschaft zu bringen. Jeder Satz und jedes gedankliche Gerüst eine Kunst für sich! Es wirkte nie konstruiert und mit Gewalt gewollt. Frei gedacht und frei geschrieben. Endlich mal wieder ein Buch, dass mich wirklich richtig begeistert und mitgerissen hat! Hinaus in den Wald, hinaus an die See, Backstage, ins Theater. Vorhang auf für ein großartiges Leseerlebnis! Ich bin dann mal Gulasch kochen.