Der Löwe und der Kojote

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"Sein Schicksal war wie das der Orangenblüten, die auf diesem Land Frucht getragen hatten: In der Ferne würde er verblühen."

Die alte Nana Reja rührt sich eigentlich nicht mehr von ihrem Schaukelstuhl. Doch eines Tages führt sie ihr Instinkt zu einer Brücke, unter der ein Neugeborenes liegt, umhüllt von einem Bienenschwarm. Auf der Hacienda der Familie Morales wächst Simonopio auf, immer begleitet von seinen Bienen. Mehr als einmal rettet er die Familie mit seinen besonderen Gaben vor schrecklichem Unheil. Doch ein starker Löwe wie er es ist sieht sich früher oder später dem Kojoten gegenüber, der ihn fürchtet und verachtet - und der nichts anderes im Sinn hat als Mord.

Zunächst habe ich mich gefragt, warum Segovias Debütroman, der in Mexiko bereits 2015 erschienen ist, erst jetzt in deutscher Übersetzung herauskommt. Schnell war klar: Die Kapitel über die Spanische Grippe beschreiben eine Situation, wie wir sie gerade durchleben. Die Parallelen waren erstaunlich, selbst die Wortwahl ähnlich der, die uns heute auf Schritt und Tritt verfolgt. Ein spannender, nahbarer Einstieg also, der Länder- und Zeitgrenzen verwischt.

Segovia schreibt mit einer magisch angehauchten Leichtigkeit, die das Lesen zum Genuss macht. Man fliegt förmlich durch die Seiten - auch wenn die Auflösung der Geschichte am Ende sicher etwas hätte gestrafft werden können. Die Erzähl- und Perspektivwechsel sind am Anfang außerdem verwirrend, zeitlich scheint da gar nichts zusammenzupassen, bis man die Zeitstränge dann einmal entwirrt hat. Dann macht das Lesen Freude, trotz gelegentlicher Wiederholungen und Schleifen.

Segovia fängt das Lokalkolorit, die damalige Zeit und die mexikanische Geschichte in prachtvollen Bildern ein. Die Magie des Landes kulminiert in der Existenz Simonopios, dessen Herkunft nie erforscht und der von der Familie Morales mit herzerwärmender Liebenswürdigkeit adoptiert wird. Er ist eben der Bienenjunge, immer umsurrt von seinem Schwarm, der ihm eine einzigartige Perspektive auf die Welt eröffnet. Simonopio ist ein Plädoyer und gleichzeitig ein Exempel für eine wundersame Naturverbundenheit, die man nicht lernen, sondern nur fühlen kann.

Doch die Geschichte dreht sich viel öfter noch um die Belange der Familie Morales, und die sind alles andere als magisch. Da geht es um Landreformen, Pandemien, Hochzeiten, aufsässige Arbeiter, einen spätgeborenen Sohn, und viele andere alltägliche Themen, die Segovia immer spannend zu erzählen weiß. Aus den Augen des gealterten Francisco wirkt alles wie in Sepia gefasst und dennoch lebendig.

In einer Geschichte voller guter Menschen darf ein ausgemachter Bösewicht nicht fehlen. Simonopio weiß, dass er sich irgendwann einmal seinem Todfeind Espiricueta wird stellen müssen - das Treffen des Löwen mit dem Kojoten. Der verbitterte Landarbeiter schürt einen tiefen Hass gegen alles, was mit Gutsbesitzern und ihren Ansprüchen zu tun hat, und trotz Segovias knappen Bemühungen, seine Situation und seine Gefühle verständlich zu machen, ist er letzten Endes nicht mehr als ein kranker Soziopath. Er ist der Schlüssel zur Tragik der Geschichte, aber für mich war die trennscharfe Einteilung in Gut und Böse etwas zu simpel. In diesem speziellen Setting und mit dem leise im Hintergrund klingenden magischen Realismus ging das gerade nochmal gut, aber für meinen Geschmack war es schon grenzwertig.

Nichtsdestotrotz entwickelt Segovia ein Panoptikum des Lebens in einem kleinen Städtchen im Norden Mexikos, das weder vor dem Lauf der Zeit noch vor der Bösartigkeit einzelner Menschen gefeit ist. Simonopio ist der Lichtblick, der naturverbundene Erretter, den man nur lieben kann. Bis auf ein paar kleine Kritikpunkte also ein gelungener, flott lesbarer Unterhaltungsroman.