Im Leben lesen, nicht in Büchern

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nathi_taiwan Avatar

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„Simonopio war ein Kind der Natur, ein Kind der Berge. Er musste im Leben lesen, nicht in Büchern.“
Auf diesen Roman war ich sehr gespannt, da der Buchmarkt in Deutschland hauptsächlich durch europäische und US-amerikanische Autor:innen bestimmt wird, ich aber leider viel zu selten ein Buch aus anderen Ländern in den Händen halte. Daher habe ich mich sehr über meinen ersten Roman von einer mexikanischen Autorin gefreut. Denn dasselbe gilt auch für das Setting – Mexiko zu Beginn des 20. Jahrhunderts – über das ich vor dem Roman wenig wusste.

Die Charaktere in diesem Roman sind eher stereotyp aufgebaut und stehen oft im Kontrast zueinander. So wird die Geschichte aus einer Vielzahl von Perspektiven erzählt. Zwei dieser Schilderungen erfolgen aus der Sicht der beiden Eheleute Beatriz Morales und Francisco Morales, die wohlhabende Großgrundbesitzer sind und das Bild von gläubigen und gerechten Christenmenschen vertreten. Ihnen gegenüber steht die Erzählperspektive von Anselmo Espiricueta, einem armen Landarbeiter, der die Felder von Francisco Morales bestellt, und der durch seinen Hass und seine Wut auf die etablierten Strukturen von arm vs. reich/ Feldarbeiter vs. Feldbesitzer/ Diener vs. Herr charakterisiert wird und der zugleich aber selber danach giert, eigenes Land zu besitzen. So lernt man früh im Roman Vertreter dieser Klassengesellschaft kennen.

Eine andere Perspektivart bieten hingegen die Schilderungen des Francisco Morales Júnior, dessen rückblickende Erzählung zuweilen einem allwissenden Erzähler gleicht. Besonders ist hierbei, dass durch die Andeutungen der zukünftigen Geschehnisse Spannung aufgebaut wird – als Leserin wusste ich, dass es zu einer Eskalation des Konfliktes kommen wird.

Der wichtigste Charakter in diesem Roman ist jedoch Simonopio. Der Name kam mir gleich sehr ungewöhnlich vor. Nach einiger Recherche fand ich heraus, dass Simonopio aus dem Hebräischen kommt und so viel wie „der, der zuhört“ bedeutet und wirklich sehr gut zu seiner Figur passt. Denn Simonopio macht aus dieser Geschichte – die ohne ihn einfach nur ein historischer Roman wäre – ein Werk im Genre des realismo mágico, auch magischer Realismus genannt, einer in Lateinamerika häufig anzutreffenden Stilform. Diese literarische Strömung zeichnet sich insbesondere durch ihre Sinneseindrücke und Empfindungen von anderen Stilen ab. So verschmilzt in der Figur des Simonopio die greifbare Wirklichkeit mit der magischen Realität. Denn seine ständigen Begleiter sind die Bienen, die ihm den Weg zuflüstern, die ihm Zukunftsperspektiven eröffnen, die ihm ihre eigene Sprache lehren. Durch seine Gabe und seine Fähigkeit zuzuhören, kann Simonopio den Lauf der Geschichte beeinflussen. Denn genau wie die Bienen das Leben der Bäume und Pflanzen um sie herum bestimmen, vermag Simonopio das Leben der Familie Morales zu bereichern. Besonders berührend fand ich dabei die Sprache zwischen diesen zwei so ungleichen Brüdern, die niemand außer ihnen spricht.

Der Roman hat mich oft an Thomas Manns Werk „Mario und der Zauberer“ denken lassen, da beide einer ähnlichen Struktur folgen: Schon früh wird in beiden Romanen erwähnt, dass der unterschwellig brodelnde Konflikt aufbrechen und in einer womöglich tödlichen Situation enden wird. Der Tod muss die unausweichliche Folge sein, denn nur er kann den Konflikt lösen. Gleichzeitig ist der Tod ein ständiger Begleiter in diesem Roman, der zuerst durch die Spanische Grippe auftaucht und durch die Angst vor Entführungen, Mord und Krieg eine Konstante in der Geschichte bildet. Dies alles spielt sich vor einem gut recherchierten historischen Setting ab, in dem die Autorin gekonnt technische Errungenschaften der Zeit und Veränderungen im Bereich der Agrarwirtschaft widergibt.

Obwohl mich die Sprache sehr verzaubert hat und trotz dieses interessanten Settings und dem Entgegenfiebern des Konflikts, konnte mich die Geschichte leider nicht wie erhofft mitreißen, da mir leider schon früh im Buch klar war, wer mit dem Tod bezahlen muss. Gelungen fand ich die natürlich empfundene Verwischung von Realität und Fantasie, allerdings finde ich, dass die Figur des Simonopio noch mehr ausgeschöpft hätte werden können.
Zudem wurden sehr viele Themen behandelt, angefangen mit der Spanischen Grippe, über den mexikanischen Bürgerkrieg bis hin zu Agrarreformen. Mir persönlich hätte es besser gefallen, wenn die Themen mehr in der Tiefe als in der Breite behandelt worden wären. Für die wunderschöne Sprache und als sanften Einstieg in die Welt des realismo mágico vergebe ich daher 3,5 Sterne.

Simonopios Worte begleiten mich aber auch noch nach dem Lesen. Daher möchte ich gerne mit seinen weisen Worten abschließen: „zuzuhören, was das Leben einem manchmal ins Ohr, ins Herz oder in den Bauch murmelt.“