Bewegende Familiengeschichte

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lynn253 Avatar

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Was für eine bewegende Geschichte! Ich wollte eigentlich nur kurz reinlesen und habe am Ende fast das gesamte Buch am Stück gelesen.

Kurz zum Inhalt: Mona reist kurz vor dem 80. Geburtstag ihres Opas in der Marsch. Doch als sie ankommt, ist ihre Oma Annemie einfach weg. Keine Spur von ihr. Die Familie sucht, die Polizei such - nichts. Zurückgelassen hat sich all ihre Sachen und jede Menge unbeantworteter Fragen.
In einem zweiten Erzählstrang, etwa 30 Jahre vorher, macht sich Freya in Hamburg auf die Suche nach ihrem Bruder, der ebenfalls plötzlich verschwunden ist. Und im dritten Erzählstrang lernt man schließlich noch einmal 30 Jahre früher die junge Annemie kennen, die in einem beengten Zuhause in der Marsch aufwächst.

Es ist eine Geschichte über Familien und Familiengeheimnisse, über das Mutter-Sein, das Tochter-Sein, das Selbst-Sein. Es werden verschiedene Themen aufgegriffen, die teilweise ziemlich heftig sind - dysfunktionale Familiendynamik, Misshandlung, Vernachlässigung, Entmündigung, Sexismus und Suizid. Mich hat das beim Lesen mitgenommen, und ich bin nicht sicher, ob eine Triggerwarnung nicht angebracht wäre.
Erzählt wird aus der Sicht mehrerer sehr unterschiedliche Charaktere, zu unterschiedlichen Zeiten: 1964/5, 1994/5, 2024. Die Frauen stehen an ganz unterschiedlichen Punkten im Leben, trotzdem spiegeln sich ihre Sorgen teils über Generationen hinweg. Anschaulich gemacht wird auch, wie sich das Verständnis von Familie und Erziehung im Laufe der Zeit entwickelt hat. Vor allem die Erziehung, die Annemie erlebt; die traumatischen Erlebnisse als junge Erwachsene und der daraus resultierende Umgang mit ihren eigenen Kindern war teilweise schwer zu ertragen. Trotzdem - und auch gerade deshalb - war es für mich eine sehr bewegende Geschichte. Nicht immer schwarz-weiß, sondern aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Vor allem Emotionen wurden für mich sehr schön rübergebracht, und mit einem besonderen Erzählstil anschaulich beschrieben. Zudem fand ich auch die Beschreibung der Marsch gelungen, die Besonderheit diese Landschaftsstrichs wird eindrücklich eingefangen im Einklang mit der Geschichte dargestellt.

Außerdem bleibt die Geschichte spannend. Die Frage nach Annemies Verschwinden beantwortet sich erst ganz zum Schluss. Zusätzlich ist man als Leser stets dabei, die unterschiedlichen Figuren und Handlungsstränge einzuordnen und in Relation zueinander zu setzten.
Am Anfang des Romans habe ich mich zunächst mit etwas vielen Charakteren auf einmal konfrontiert gefühlt und konnte sie nicht so ganz einordnen. Es gibt keine Einweisung in die Beobachtungsposition des Lesers, man wird direkt ins Geschehen geworfen. Nach erster Verwirrung hat das Rätseln dann aber definitiv für mich zum Spannungsbogen beigetragen.

Auch das Cover passt für mich wunderbar zum Buch - ruhig, nachdenklich, ein bisschen melancholisch, ein bisschen poetisch.

Insgesamt für mich eine sehr berührende Geschichte!