Eine vielschichtige Familiengeschichte voller Geheimnisse

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MEINE MEINUNG
In ihrem neuen Roman „Das Flüstern der Marsch“ erzählt Katja Keweritsch die vielschichtige und bewegende Familiengeschichte der Hanssens in der norddeutschen Marsch, die sich über mehrere Generationen erstreckt.

Die kunstvoll auf wechselnden, verschachtelten Zeitebenen angelegte Handlung entfaltet ein spannungsvolles Wechselspiel aus sorgsam gehüteten Geheimnissen und erstaunlichen Enthüllungen. Der lebendige und einfühlsame Schreibstil der Autorin fesselt und lädt zum mühelosen Eintauchen in die fein gesponnene Familiengeschichte ein, die mit wachsender Dynamik und zunehmender Dramatik an Intensität gewinnt.

Eindrucksvoll und lebensnah schildert die Autorin Episoden aus dem Leben der Frauen rund um die Familie Hanssen, deren Schicksale von verborgenen Verletzungen, tiefen Traumata und folgenreichen Entscheidungen nachhaltig geprägt sind. Ob nun Enkelin Mona, Onkel Stefans Frau Janne, Großmutter Annemie oder Freya, deren Rolle in der Geschichte erst allmählich aufgedeckt wird- sie alle sind in den Zwängen familiärer Erwartungen, moralischer Normen, gesellschaftlicher Konventionen und zeitgenössischer Frauenbilder gefangen und kämpfen auf jeweils eigene Weise um ein selbstbestimmtes Leben als Frau und Mutter. Geschickt verwebt die Autorin in Rückblenden und Perspektivwechseln die unterschiedlichen Generationen der Familie und ihre Lebenswege zu einer fesselnden Erzählung, in der Vergangenheit und Gegenwart eindrucksvoll ineinanderfließen und sich miteinander verbinden.

Die Handlung beginnt mit dem rätselhaften Verschwinden von Annemie, der Großmutter der Protagonistin und Ich-Erzählerin Mona, kurz vor dem 80. Geburtstag ihres Großvaters Karl. Während Karl die mehrtägige Abwesenheit seiner Frau gelassen hinnimmt, wächst in Mona die Sorge, und sie beschließt, den Hintergründen für das Verschwinden nachzugehen. Je intensiver Mona sich mit den Schatten der Vergangenheit auseinandersetzt, desto deutlicher wird die Fragilität der scheinbaren Familienidylle. Bei ihrer Spurensuche deckt sie nicht nur zahlreiche verborgene Ereignisse auf, sondern enthüllt schließlich ein jahrzehntelang gehütetes Geheimnis, das Annemie mit aller Macht und fatalen Folgen über die Jahre vor allen verborgen hielt.

Äußerst anschaulich und stimmungsvoll gelingt es Keweritsch, die einzigartige Landschaft der norddeutschen Marsch sowie das vielfältige Flair der verschiedenen Handlungsorte darzustellen. Der Zauber der beeindruckenden Natur und die Härten des Lebens in der Marsch werden nahezu spürbar. Atmosphärisch dicht zeichnet die Autorin das dörfliche Gemeinschaftsleben und soziale Gefüge in der Marsch nach, das sich als ein komplexes Geflecht aus Zusammenhalt und Schweigen erweist. Eindrucksvoll fängt sie einen faszinierenden Mikrokosmos aus engen sozialen Banden, versteckten Spannungen und unausgesprochenen Geheimnissen ein. Die Verknüpfung der unverwechselbaren Atmosphäre der norddeutschen Landschaft mit der spannungsvollen Handlung um das Verschwinden der Großmutter und den vielfältigen Dramen der Familie ist der Autorin hervorragend gelungen.

Die einfühlsame und vielschichtige Figurenzeichnung macht die Protagonistinnen lebendig und glaubhaft. Facettenreich arbeitet Keweritsch deren innere Dämonen, Verletzlichkeiten sowie ihre Stärken und Sehnsüchte heraus, sodass man sich gut in ihre Motive und Handlungen hineinversetzen kann. Besonders eindringlich veranschaulicht sie die Zerrissenheit zwischen Verbundenheit und Distanz, dem Wunsch nach Nähe und dem fatalen Drang zu Schweigen und Vertuschen. Behutsam zeigt sie auf, wie der Druck zur Anpassung in der dörflichen Enge sowie Sprachlosigkeit, Unverständnis und Verbitterung die Figuren verzweifeln lassen und die familiären Bindungen bis in die nächsten Generationen schwer belasten. Besonders gelungen ist das berührende Porträt von Annemies weiblicher Lebensrealität zwischen gesellschaftlichen Zwängen und individuellem Freiheitswillen.

Fesselnd ist es mitzuerleben, wie die Autorin einfühlsam die komplexen Beziehungsgeflechte zwischen den Generationen offenlegt und Schritt für Schritt lange verborgene Familiengeheimnisse enthüllt. Jede neue Erkenntnis fügt sich als kleines, aber entscheidendes Fragment in das vielschichtige Familienmosaik ein und macht die tiefreichenden, oft erschütternden Konsequenzen eindrucksvoll sichtbar. 

Trotz ihrer emotionalen Intensität wirkt die Auflösung leider an einigen Stellen vorhersehbar und verliert dadurch einen Teil des psychologischen Tiefgangs, der den Rest der Geschichte so lebendig und facettenreich erscheinen lässt.


FAZIT

Eine bewegende und fesselnde Familiengeschichte, die durch seinen einfühlsamen Erzählstil, vielschichtige Figuren und ein spannendes Geflecht aus Geheimnissen und Enthüllungen überzeugt.