Die Geschichte nimmt sich Zeit, sie vertraut ihren Figuren

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Der Herbst hat nicht nur draußen schon vor den Sommerferien Einzug gehalten, sondern auch im Bücherregal. Windböen, dicke Regentropfen und grauer Himmel bilden die perfekte Kulisse, um sich an die schottische Küste in den letzten Zügen des 19. Jahrhunderts entführen zu lassen. 
Wie viel Trauer hält ein Leben aus, bevor es daran zerbricht? Diese Frage stellt sich fast auf jeder Seite dieses Romans – und sie trifft, wie der eiskalte Wind, der durch das fiktive Fischerdorf Skerry pfeift. Wir schreiben das Jahr 1900. In einem abgelegenen schottischen Dorf lebt Dorothy, eine Frau, die gelernt hat, zu funktionieren. Nicht zu fühlen. Denn Gefühle wurden ihr früh ausgetrieben – von einer Mutter, für die Liebe gleichbedeutend mit Kontrolle war. Als ihr Sohn Moses verschwand, nahm das Meer nicht nur ein Kind, sondern alles, was Dorothy je an Halt hatte.Und dann wird eines Tages ein fremder Junge an den Strand gespült. Ist er es? Natürlich nicht. Und doch reißt seine Ankunft alle alten Wunden wieder auf. Das Dorf redet. Es tuschelt, es verurteilt, es weiß alles besser. Es ist das gleiche Dorf, das Dorothy nie akzeptiert hat, weil sie sich nicht bückt, nicht lächelt, nicht entschuldigt, dass sie da ist.
Was wie ein melancholisches Küstendrama beginnt, entfaltet sich nach und nach zu einer bitteren, schmerzhaft ehrlichen Studie über Mutterschaft, Schuld und weibliche Selbstverleugnung. Über das Schweigen, das wir Frauen uns selbst auferlegen. Weil wir stark sein sollen. Still. Unauffällig. Nützlich. Aber Dorothy schweigt nicht mehr. Vielleicht bricht sie daran, vielleicht findet sie genau darin ihre Stärke – das bleibt in der Schwebe. Und das macht diesen Roman so verdammt gut.
Julia R. Kelly (Ü: Claudia Feldmann) schreibt mit leiser Wucht. Die Geschichte nimmt sich Zeit, sie vertraut ihren Figuren, statt sie zu verraten. Die Atmosphäre ist düster, das Meer ist unbarmherzig, aber irgendwo unter all dem Grau leuchtet Hoffnung auf. Ein kleines Licht, das reicht, um bis zur letzten Seite mitzufühlen. „Das Geschenk des Meeres“ ist keine seichte Lektüre für verregnete Sonntage – es ist ein Roman, der wehtut, der mitzieht, der bleibt. Und vielleicht ist genau das sein größtes Geschenk.