Ein leiser Roman über Verlust, Zugehörigkeit und die Kraft des Meeres

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sasch0406 Avatar

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Schon das stimmungsvolle Cover und der schön gestaltete Einband haben mich neugierig auf dieses Buch gemacht – und mein Gefühl hat mich nicht getäuscht. „Das Geschenk des Meeres“ ist ein stiller, poetischer Roman, der durch seine Atmosphäre, seine Figuren und seine Sprache berührt.

Im Mittelpunkt steht Dorothy, eine junge Frau, die um 1900 ihre erste Stelle als Lehrerin im abgelegenen schottischen Küstenort Skerry antritt. Hier verbringt sie ihr weiteres Leben – sie heiratet, wird Mutter, wird von ihrem Mann verlassen und verliert auf tragische Weise ihren Sohn in einem nächtlichen Sturm ans Meer. Diese Verluste prägen nicht nur Dorothys Lebensweg, sondern auch ihr Verhältnis zur Dorfgemeinschaft, in der sie stets eine gewisse Außenseiterrolle einnimmt. Teils hat sie sich diese selbst auferlegt, teils wird sie ihr durch die starren sozialen Strukturen des Ortes zugewiesen.

Der Roman ist vielstimmig erzählt und wechselt zwischen unterschiedlichen Zeiten und Perspektiven, was anfangs etwas Orientierung verlangt. Doch es lohnt sich, dran zu bleiben: Nach und nach fügen sich die Erzählstränge ineinander und zeichnen ein dichtes Bild von Skerry und seinen Bewohnern. Besonders gelungen ist dabei die Darstellung des dörflichen Lebens um 1900 – mit all seinen Verpflichtungen, ungesagten Wahrheiten, dem Tratsch und den festgefahrenen Rollenbildern.

Dorothy ist eine vielschichtige Figur: verletzlich, stolz, geprägt von Scham, Missverständnissen und Selbstzweifeln. Man möchte sie manchmal wachrütteln, so sehr steckt sie in ihrer Rolle fest. Und doch wirkt sie gerade deshalb authentisch – ein Mensch mit Ecken und Kanten, der lange braucht, um seinen Weg zu finden.

Die Beziehung zwischen dem Fischer Joseph, der damals den Stiefel von Dorothys Sohn fand und der in der Gegenwart der Geschichte einen bewusstlosen Jungen am Strand findet, der offenbar angeschwemmt wurde, ist ein besonderes Element in diesem Buch und zieht sich durch die gesamte Geschichte. Auch er hat eine Art Außenseiterrolle in der Dorfgemeinschaft, aber auf andere Art und Weise und aus anderen Gründen.

Was dem Buch eine besondere Tiefe verleiht, ist das Spiel mit Mythen, Legenden und dem Übersinnlichen. Immer wieder schwingt etwas Magisches mit, besonders in der Beziehung zwischen Dorothy und dem Jungen, der eines Tages ans Meeresufer gespült wird. Diese mystischen Elemente fügen sich wunderbar in die Atmosphäre des Romans ein und machen die Geschichte auf eine stille Art märchenhaft.

Der Schreibstil ist ruhig, fast poetisch, und passt hervorragend zum Ton des Romans. Es geht nicht um große Dramen, sondern um die feinen, leisen Töne. Gerade gegen Ende entfaltet sich die Geschichte in einer berührenden Intensität – mit einem Schluss, der stimmig ist, aber dennoch nachhallt.

Fazit:
„Das Geschenk des Meeres“ ist ein feinfühliger Roman über Verlust, Zugehörigkeit und die Suche nach einem Platz im Leben. Wer ruhige, atmosphärische Geschichten mit viel Gefühl, Tiefe und einem Hauch von Magie liebt, wird hier ganz sicher fündig.