Historische und bibliophile Geschichte - Zwischen Herrenhaus und Graphischem Viertel

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Der neue historische Roman „Das Haus der Bücher und Schatten“ von Kai Meyer nimmt uns mit in dem Baltikum und wieder ins historische Leipzig, genauer ins faszinierende Graphische Viertel. Es geht wieder um Bücher, wie auch in den beiden Vorgängerromanen des Autors „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ und „Die Bibliothek im Nebel“, diesmal geht es aber auch viel ums Schreiben von diesen.

Die Handlung spielt auf zwei Zeitebenen: Kurz vor dem Ersten Weltkrieg und im Jahr 1933. Damit fällt hier schon mal ein Unterschied zu den Vorgängern auf, welche sich alle einzeln und in beliebiger Reihenfolge lesen lassen, wo es drei Zeitebenen gab. Ich finde, dass man sich durch die weniger häufigen Wechsel dieses Romans, besser in die Figuren und Zeitebenen einfühlen kann und besser präsent hat, in welcher Zeit die Handlung gerade spielt.

„Und da waren wir nun, Jonathan und ich, in einem Zug, im Wald, im Schnee, irgendwo im Nichts zwischen Riga und Russland.“ (Meyer, Das Haus der Bücher und Schatten, 2024, S. 51)

Die junge Lektorin Paula begibt sich mit ihrem Verlobten kurz vor dem Ersten Weltkrieg in ein abgelegenes Herrenhaus in Livland, um dort das neue Manuskript eines geheimnisvollen Autors zu erhalten. Außer dem Autoren und seiner merkwürdigen Haushälterin sind sie ganz allein in dem riesigen, eingeschneiten Haus, hinter dessen Wänden unerklärliche Geräusche zu hören sind. Paula ist alarmiert, aber ihr Verlobter nimmt sie nicht ernst. Und was steht in dem Manuskript, welches der Autor ihr ständig versagt?
Im Jahr 1933 zieht der Tod einer jungen Frau vor der Deutschen Bücherei den nicht mehr im Dienst seienden Polizeibeamten Cornelius dank einer von ihr übermittelten geheimnisvollen Nachricht in Ermittlungen. Warum musste sie sterben? Und was bedeuten ihre Worte an ihn?

Wir begleiten Cornelius dabei, wie er immer tiefgreifendere Intrigen aufdeckt, und Paula, wie sie durch das Herrenhaus Hundsheide und dessen verschneites Gelände streift. Ich möchte nicht zu viel verraten, aber: Das Ende ist überraschend!
Die Charaktere Paula, Jonathan und Cornelius sind komplexe Persönlichkeiten mit unterschiedlichen inner- und zwischenmenschlichen Konflikten und Problemen, was mir sehr gefallen hat. Dazu kommen die Spannungen von außen, vor allem im Jahr 1933 der sich verstärkende Nationalsozialismus, welcher eine unheilvolle Atmosphäre aufbaut. Dieses sensible und so wichtige Thema behandelt der Autor sehr behutsam und trotzdem nicht beschönigend, die Perspektive von zeitgenössischen Individuen führt einen als Leser*in recht authentisch anmutend an das Thema heran, ohne es permanent in den Vordergrund der Geschichte zu drängen. Gleichzeitig ist es als historischer Kontext selbstverständlich Teil des Plots sowie der Auflösung und beeinflusst die Figurenhandlung.

„Manchmal, vor allem nach anstrengenden Tagen im Verlag, musste ich die Bücher einfach nur spüren, so wie man sich immer wieder gern in warmes Wasser gleiten lässt, obwohl man das Gefühl längst verinnerlicht hat.“ (Meyer, Das Haus der Bücher und Schatten, 2024, S. 242)

Besonders begeistert haben mich die zahlreichen bibliophilen Motive: Bibliotheken, Lektoren, Archive, Manuskripte… Meyers Schreibstil lässt einen selbst die Bücher riechen und mit den Fingern an ihren Rücken entlangfahren. Schon die ausgewählten Zitate in dieser Rezension verdeutlichen, wie lebendig, bildhaft und packend der Schreibstil von Kai Meyer ist. Man sieht beim Lesen die Weite des zugefrorenen Sees vor sich, die schummerigen Gänge im Herrenhaus und das verrauchte Graphische Viertel. Das Cover erscheint auf den ersten Blick recht düster, was gut zu der Geschichte passt.

„Zwischen all dem Stoff und Pelz sah ich Jonathans braune Augen in einem schmalen Spalt, immer wenn er mir den Kopf zuwandte, und das tat er oft, so als wollte er sichergehen, dass wir beide dies alles gemeinsam erlebten: die lange, kalte Reise durch den Winterwald, dessen Baumreihen mir wie Spaliere erstarrter Gespenster erschienen, tote Riesen unter weißen Laken.“ (Meyer, Das Haus der Bücher und Schatten, 2024, S. 55)

Es vermischen sich Liebesgeschichte und Kriminalroman, historischer Roman und phantastische Erzählung, während die komplexen Handlungsstränge geschickt miteinander verwoben werden. Meyer gelingt es, Intrigen, okkulte Veranstaltungen, bibliophile Motive und persönliche Beziehungen gekonnt zu verknüpfen. Insgesamt kann ich den Roman sehr empfehlen. Die Geschichte hat eine sehr beeindruckende Atmosphäre, ist düsterer als ihre Vorgänger, auch wenn sie weniger Einschübe an phantastischen Elementen hat. Für Liebhaber*innen historischer Romane, Buch-in-Buch-Geschichten oder mystischer Kriminalromane ist dieses Buch ein absolutes Muss.