Am Ende werden wir alle zu Geschichten

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aischa Avatar

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Ich bin wirklich nicht der Typ für große Gefühlsduselei. Im Gegenteil: Normalerweise brauche ich in der Literatur – wie im Leben – ein gewisses Maß an Action, Tempo und Abwechslung. Lange Landschaftsbeschreibungen oder ausufernde poetische Abschweifungen? Eher schwierig für mich. Und doch… hat mich dieses Buch mitten ins Herz getroffen. Und zwar vor allem mit seinem langsamen Tempo und der überbordenden Liebe zu Irland, seinen Menschen, ihrer Kultur und der rauhen Landschaft.

Niall Williams, geboren 1958 in Dublin, ist eigentlich gelernter Literaturwissenschaftler und Dramatiker. Bevor er sich dem Schreiben von Romanen widmete, arbeitete er als Drehbuchautor. Seine tiefe Liebe zu Irland ist in jeder Zeile spürbar. Und wenn man „Das ist Glück“ liest, versteht man sehr schnell, warum er nach fünfjährigem Aufenthalt in New York wieder in seine irische Heimat zurückkehrte und inzwischen zu den großen Erzählern Irlands gehört.

Diese Geschichte ist leise, manchmal fast beiläufig erzählt. Über weite Strecken passiert – objektiv gesehen – wenig. Oder wie es so schön im Buch heißt: „Nichts geschah, aber das immer wieder.“ Und doch passiert alles. Große Themen wie Schuld, Vergebung, Altern, Erinnerung, Sterben, Tod und auch die Rolle von Kirche und Religion im Alltag der Menschen – all das verhandelt Williams auf eine so feine, respektvolle und unaufgeregte Weise, dass es mich beim Lesen entschleunigt und geerdet hat.

Normalerweise langweile ich mich schnell, wenn Handlung ausbleibt – aber hier? Keine Spur davon. Die poetischen, manchmal ausufernden Beschreibungen von Wetter und Landschaft wirken nie überladen oder gar kitschig. Sie sind vielmehr wie der ruhige Puls des Lebens selbst. Williams schafft es, die irische Natur mit einer solchen Selbstverständlichkeit in die Geschichte einzuweben, dass sie fast selbst zur Figur wird.

Und dann diese Charaktere! Schrullig? Ja. Speziell? Absolut. Aber immer voller Wärme und Menschenliebe gezeichnet. Mit großer Achtung vor ihren Eigenheiten und Brüchen. Was ich besonders schätze, ist der feine, manchmal fast schalkhafte Humor, der immer wieder unverhofft aufblitzt. Wenn etwa über eine Ordensoberin gesagt wird: „In Mutter Aquinas' Stimme lag nichts Lammweiches. Sie hätte sich ohne Weiteres dafür qualifiziert, das stellvertretende Kommando über die Alliierten zu führen.“ Oder die köstliche Passage über die Elektrifizierung des Dorfes, nachdem Spiegel zum Verkaufsschlager wurden und die Bewohner im grellen Lampenlicht : „… zum ersten Mal erkannten, wie sie wirklich aussahen.“

Unvergessen bleibt für mich auch die schöne Parallele, die Williams zwischen der irischen Erzähltradition und der traditionellen Musik der Insel zieht: Beide scheinen kein Ende zu finden, alle Geschichten sind lang, weil "Geschichten über etwas so Abwegiges und Widersprüchliches wie menschliches Verhalten so lang sein mussten, dass sie diesseits des Grabes nicht zu Ende sein würden und tatsächlich nicht zu Ende sein konnten ... ", ebenso wie die Lieder, die landauf landab virtuos auf der Fiddle oder Tin Whistle gespielt wurden und werden, scheinbar ohne Ende ineinander übergehen.

Am Ende bleibt das Gefühl, einer Einladung gefolgt zu sein: Raus aus unserer hektischen, getriebenen Welt hinein in eine andere Zeit, ein anderes Tempo, eine andere Haltung dem Leben gegenüber. Eine großherzige Reise ins Irland Mitte des letzten Jahrhunderts.

Mein Fazit: Unbedingt lesen! Besonders für alle, die ihr Glück (wieder) in der Ruhe, im Annehmen des eigenen Schicksals und in der Beobachtung des scheinbar Alltäglichen finden wollen.