Tränen über Tränen

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
marapaya Avatar

Von

Welcher leidenschaftliche Leser kennt das nicht? Bei der Lektüre eines Buches werden, je nach Sujet und Schreibkunst des Autors, starke Emotionen in einem geweckt. Der Krimi erzeugt Spannung, der Liebesroman Sehnsucht und Hoffnung, der humoristische Roman bietet amüsante Unterhaltung und Gegenwartsromane sind zuweilen etwas sperrig und auf erster Ebene nicht unbedingt auf die Erzeugung positiver Gefühle im Leser aus. Ganz oft hat mich eine Stelle in einem Buch schon einmal zu Tränen gerührt, manchmal besiegelte ich das Ende des Buches mit einem kleinen Weinkrampf, aber noch nie ist es mir so gegangen wie beim Lesen von „Das Jahr, nachdem die Welt stehen blieb“ von Clare Furniss. Die letzten zwei Drittel des Buches sind mir fast unablässig die Tränen übers Gesicht gelaufen und die Buchstaben regelrecht vor den Augen verschwommen. Mit einer seltsamen Mischung aus Mitgefühl und Antipathie für die Protagonistin waren diese Tränen verbunden. Pearl ist 15 und ein ganz normaler Teenager, bis zu dem Tag an dem ihre Mutter stirbt. An einem kalten Februarabend verabschiedet sich Pearl von ihrer hochschwangeren Mutter und geht mit ihrer besten Freundin Molly ins Kino. Nach diesem Film ist nichts mehr wie vorher. Der Vater panisch auf der Mailbox, im Krankenhaus die schlimmste Nachricht – die Mutter stirbt bei der Geburt und für Pearls kleine Schwester Rose ist es viel zu früh, sie sieht noch gar nicht aus wie das kleine rosige Baby, welches sich Pearl vorgestellt hatte. Die winzige Rose sieht für sie aus wie eine kleine nackte Ratte, eine Ratte für die ihre Mutter gestorben ist und die nun die erste eigene Tochter für ihren Dad ist. Jeden Tag ist er bei ihr im Krankenhaus. Bisher kam Pearl gut damit klar, zu wissen, dass ihr Dad nicht ihr leiblicher Vater ist. Er ist der einzige Vater, den sie hat und sie liebt ihn und bis zur Geburt ihrer kleinen Schwester war sie sich seiner Liebe ebenso sicher. Plötzlich scheinen sich alle Gewissheiten aufgelöst oder umgekehrt zu haben. Pearl versinkt in ihrer Trauer und den Verlust ihres Lebens. Sie zieht sich völlig zurück, lässt niemanden mehr an sich ran, selbst der besten Freundin Molly zeigt sie die kalte Schulter. Ein ganzes Jahr erlebe ich als Leser an ihrer Seite, nehmen teil an ihrem Kummer und ihren verqueren Gedanken und Gefühlen ihrer Umwelt gegenüber. Ich kann mich gut in sie hineinfühlen, ihr Schmerz tut auch mir weh und doch überwiegt die Hilflosigkeit, mit der auch die übrigen Figuren um Pearl herum zu kämpfen haben. Das sich Aufgeben, sich in der Trauer verlieren, gegen die Gefühle kämpfen und alle um sich herum vor den Kopf zu stoßen – das ist auch für mich als Leser schwer zu ertragen. Ganz oft hätte ich sie zu gern mal schütteln mögen und ihr ins Gesicht brüllen, dass sie nicht ganz richtig tickt. Oder ihr einen Menschen gewünscht, der sie versteht und dem sie sich öffnen hätte können. Doch Pearl musste sich allein durch ihre Trauer kämpfen, selbst der ihr ab und an erscheinenden toten Mutter konnte sie im Zwiegespräch nicht ehrlich begegnen.
Trotz oder gerade wegen dieser für mich sehr anstrengenden Emotionalität bin ich beeindruckt von diesem Buch über das Leben und Sterben. Clare Furniss betreibt keine literarische Schönfärberei, sie geht ehrlich und schonungslos mit ihren Figuren und mit mir als Leser um. Die einzige Kritik, die ich äußern möchte, ist die etwas unglückliche sprachliche Gestaltung des deutschen Buchtitels. Im englischen sofort nachvollziehbar „The Year of the Rat“ betitelt, ergibt der deutsche Titel „Das Jahr, nachdem die Welt stehen blieb“ für mich keinen Sinn – „Das Jahr, in dem die Welt stehen blieb“ wäre eher passender gewesen.