Zwischen Ost und West

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buecherwurm Avatar

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Das Buch präsentiert sich mit einem kopfüber schaukelnden Mädchen vor der Kulisse einer Stadt. Das wirkt zunächst einmal beschwingt, unbeschwert.
Das erste Ereignis ist allerdings die misslungene Flucht aus der DDR in die BRD, die für die dreijährige Ich-Erzählerin zunächst im Kinderheim, für die Eltern im Gefängnis endet. Damit ist klar, dass es sich um keine leichte Lektüre handelt, auch wenn es zwei Jahre später eine Familienzusammenführung im Westen gibt.
Es geht um Orientierung, Zugehörigkeit, Ankommen, Anpassung. All das bereitet dem Mädchen Schwierigkeiten. Das Ausmaß der inneren Zerrissenheit zwischen zwei so unterschiedlichen Welten zeigt sich allerdings erst im letzten Drittel.
Über mehr als hundert Seiten wird von einer abwechslungsreichen, fast beneidenswerten Kindheit mit unzähligen Reisen in sämtliche Himmelsrichtungen erzählt. Obwohl der Vater nicht mehr jung und die Mutter krank ist, gelingt es den Eltern, der Tochter überwiegend Unbeschwertheit zu vermitteln. Das erinnert an Judith Kerrs „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“.
Die Beschreibungen von Schule und Alltag scheinen beinahe banal, wie eine nüchterne Nacherzählung, weitgehend emotionslos, aber geprägt von einer Grundstimmung kindlicher Zuversicht. Sogar die Zugfahrt allein, über den Eisernen Vorhang hinweg, zur Oma von Aachen nach Leipzig ist nicht sonderlich aufregend oder beklemmend für die inzwischen Zehnjährige. Es kommt wenig von der Stimmung rüber, die Bürger des sogenannten grauen Landes gespürt haben müssen. Mir fehlt atmosphärische Dichte. Wer selbst die DDR nicht kannte, kann sich auch nach der Lektüre nicht viel darunter vorstellen. Die Protagonistin erlebt scheinbar eine typische West-Kindheit mit grotesk anmutenden Ostzonen-Extras, die anderen vorenthalten bleiben.
Der letzte Teil, in dem plötzlich psychische und körperliche Probleme deutlich benannt werden, ist eher wenig nachvollziehbar, da diese sich nicht in Zusammenhang zur DDR-Vergangenheit rücken lassen. Könnte das nicht eine ganz normale Pubertät sein? Sind Depressionen nicht ohnehin weit verbreitet, auch ohne DDR-Gefängnis-Erfahrung?
Obwohl hier eine sehr persönliche, gut lesbare Geschichte chronologisch, mit glaubwürdigen Charakteren, erzählt wird, bleibt eine große Distanz.
Nicht die erste Wahl für Leser, die sich über die DDR informieren möchten.