Alles ist miteinander verbunden

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buecherfan.wit Avatar

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 Georgie Sinclairs Ehe mit Rip war schon vorher nicht mehr gut, als es wegen eines Zahnbürstenhalters zum Bruch kommt. Rip verlässt Georgie. Als er seine Sachen nicht schnell genug abholt, entsorgt Georgie sie in einem Container. Auf diese Weise lernt sie ihre Nachbarin Naomi Shapiro kennen, eine alte Dame, die sich nachts aus dem Container bedient. Es entwickelt sich schon bald eine Freundschaft zwischen den beiden Frauen. Georgie lernt das heruntergekommene alte Haus mit den sieben stinkenden Katzen kennen und wird zum Abendessen eingeladen, einem Menü aus lauter reduzierten, abgelaufenen Lebensmitteln, der wohl grauenvollsten Mahlzeit, die jemals Eingang in die Literatur gefunden hat. Georgie übernimmt zunehmend Verantwortung für die alte Dame, die nach einem Sturz ins Krankenhaus eingeliefert wird und nach Ansicht der Sozialarbeiterin des Krankenhauses nicht mehr in ihr Heim zurückkehren soll. Georgie beschützt Naomi in einer Reihe von grotesken Situationen vor Immobilienhaien und besagter Sozialarbeiterin, die sie zwingen wollen, Haus und Grundstück zu verkaufen und dabei einen ernormen Profit einstreichen möchten. Weitere Verwicklungen ergeben sich, als Georgie den Palästinenser Mr. Ali und seine zwei unfähigen Helfer für Renovierungsarbeiten einstellt und eine leidenschaftliche Affaire mit einem der Immobilienmakler beginnt. Zudem taucht ein Israeli in mittleren Jahren auf, der ebenfalls Anspruch auf das Haus erhebt. Georgie hat es zwar nicht auf materielle Besitztümer abgesehen, obwohl sie finanziell nicht allzu gut gestellt ist: sie verdient sich ihren Lebensunterhalt als Autorin für eine Fachzeitschrift für Klebstoffe, aber auch sie will etwas von Naomi Shapiro: die Geschichte ihres Lebens. Bei ihren Aufräum- und Putzarbeiten im Haus der alten Dame hat Georgie Hinweise auf ein Geheimnis gefunden, das sie unbedingt lüften will. Sie bringt Fotos und Briefe an sich und stellt immer wieder Fragen, vor allem zu Mrs Shapiros Beziehung zu ihrem geliebten Arti. Schon bald stößt Georgie auf zahlreiche Ungereimtheiten. Sie taucht immer tiefer in das Leben ihrer Nachbarin ein und erfährt viele traurige Dinge aus der Vergangenheit: Judenverfolgung und Holocaust, das Leben in den Lagern, Krankheit und Tod. Mr. Ali spiegelt jüdisches Leid in Osteuropa durch seine persönliche Geschichte und seine Version des Palästinenserkonflikts. Georgies Horizont erweitert sich immer mehr, denn auch zu ihrem ungeliebten Job entwickelt sie eine neue Einstellung und lernt dazu, zumal aus ihrem Traumjob - Autorin romantischer Liebesgeschichten - bisher nichts geworden ist. Vor diesem Hintergrund relativieren sich ihre familiären Probleme, und sie begreift, was ihr wirklich wichtig ist und wer ihr etwas bedeutet.

Marina Lewycka hat sich viel mehr vorgenommen, als einen Roman über eine unwahrscheinliche Freundschaft zwischen zwei sehr unterschiedlichen Frauen zu schreiben. Sie erfindet sehr eindrucksvolle Charaktere, vor allem die exzentrischen Alten, die trotz Krankheit und Alter alles andere sind als bemitleidenswerte Opfer, allen voran Naomi Shapiro. Sie ist eine notorische Lügnerin und Rassistin, aber auch ein überaus liebenswerter Charakter mit ihrer auch nach 60 Jahren noch sehr rudimentären Beherrschung der englischen Sprache und ihrer Fähigkeit, auch mit 81 Jahren noch zu flirten und ältere Herren für sich zu gewinnen.
Das Bemerkenswerteste an diesem Roman ist die Verknüpfung von ernsten Inhalten und Komik. Lewycka hat ein ausgesprochenes Talent für groteske Szenen, die als eine Art Comic Relief funktionieren und ein Gegengewicht zu den ernsten Inhalten bilden. Die Autorin verarbeitet eine Fülle von disparatenThemen: zweiter Weltkrieg und Holocaust, die Geschichte des Staates Israel, der Palästinenserkonflikt, die Probleme der Immigration, Alter, Einsamkeit und Tod, die Probleme des Erwachsenwerdens, Weltuntergangsfantasien, Familien in Auflösung, der Bergbau und der Kampf der Gewerkschaften , die Schwierigkeit, als Romanautorin Erfolg zu haben und schließlich Klebstoffe in der modernen Welt. Nahezu jede Episode des Romans wird mit Klebstoffen in Verbindung gebracht, ihren Eigenschaften, ihren Verarbeitungsweisen bei unterschiedlichen Materialien, der Schwierigkeit, einmal Geklebtes wieder zu trennen ... Klebstoff wird zur zentralen, manchmal etwas überstrapazierten Metapher, die sich noch in den einzelnen sprachlichen Wendungen wiederfindet: glued to the screen, couples should stick together usw. Georgie Sinclair ist sicherlich Sprachrohr der Autorin, wenn sie am Ende ihre Erkenntnis formuliert, dass alle Dinge untereinander verbunden sind, zusammengehalten durch eine geheimnisvolle Kraft, die man “Klebstoff” nennen könnte, wenn man will - ja, wer hätte das gedacht? Mit etwas gutem Willen und wenn die Chemie stimmt, kann man alles kleben, und das funktioniert hervorragend im Mikrokosmos von Canaan House, wenn schließlich eine Holocaust-Überlebende, zwei Palästinenser und ein Israeli unter einem Dach leben und wer weiß - vielleicht kann man ja auch den Weltfrieden kleben? Auch wenn manches etwas simpel und naiv erscheint - es ist schließlich kein leichtes Unterfangen, die vom Holocaust bis zu etwas speziellen sexuellen Praktiken reichende Themenvielfalt zwischen zwei Buchdeckeln unterzubringen - strahlt Lewyckas Roman so viel Wärme und Menschlichkeit aus, dass der Leser verzaubert wird.