Vergangenheit reicht in Gegenwart reicht in Zukunft

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mammutkeks Avatar

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"Manchmal, wenn ich zu verstehen versuche, was auf der Welt vor sich geht, denke ich unwillkürlich an Klebstoffe. Jeder Klebstoff reagiert mit den Oberflächen und der Umgebung auf seine ganz spezifische Weise; manche Klebstoffe binden unter Lichteinfluss ab, andere durch Hitze, andere durch den Austausch subatomarer Teilchen, andere brauchen einfach nur Zeit. Die Kunst, eine gute Bindung herzustellen, besteht darin, für die jeweiligen Fügeteile das passende Bindemittel zu kleben."

Nach dieser Maßgabe funktioniert auch das Leben von Georgie Sinclair: etwas chaotisch, etwas ungefügt, aber zusammengehalten durch vielfältige Bindungen an die Familie, an Mrs. Shapiro, an Mr. Ali und die vielen anderen Figuren aus dem Roman von Marina Lewycka. Dabei lernt sie Mrs. Shapiro, die fortan ihr Leben bestimmen wird, nur zufällig kennen, als sie den Hausrat ihres Mannes in den Container schüttet. Was ihr aber durch die skurrile alte Dame alles an Abenteuern bevorsteht, vermag sie bei der ersten Begegnung noch nicht zu ermessen.

Lewycka verarbeitet in diesem, ihrem dritten Roman wieder einmal Historisches – diesmal ist es die Geschichte der Judenverfolgung u.a. anhand des Schicksals von Arti, dem vermeintlichen Mann von Mrs. Shapiro. Auch die Auseinandersetzungen um den Staat Israel nach Ende des zweiten Weltkriegs – sowie die daraus folgenden Unversöhnlichkeiten zwischen Juden und Palästinensern – wird aufgegriffen. Daneben gehören Erziehungs- und Liebesprobleme genau wie die Sinnhaftigkeit einer Schnäppchenjagd zu den vielfältigen Themen.

Nun hätte es überladen sein können – was es auch an manchen Stellen ist -, aber es gelingt Lewycka trotzdem, eine Lockerheit beizubehalten, die das Lesen äußerst flüssig macht. Sprachlich ist Lewycka auf einem hohen Niveau. Insbesondere die immer wieder eingestreuten Klebstoff-Vergleiche sind mehr als interessant. Oder die Beschreibung einer Liebesszene mit diesen Worten: "Dann hatte er sein Hemd ausgezogen, und meine Bluse, und seine Hose, und mein Rock war hochgerutscht und … was dann passierte, ist viel zu abstoßend, um es zu beschreiben. Er ging die Etappen durch wie jemand, der sich durch die Gebrauchsanweisung eines Autos arbeitet, und ich ergab mich mit der Leidenschaft eines Ford Fiesta bei der Hundertdreißigtausend-Kilometer-Inspektion."

 

Ein sehr schönes Buch – unbedingt lesenwert!