Beklemmender True-Crime-Roman

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lilly_molamola Avatar

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Warum sieht das Phantombild der mysteriösen Toten, die 1970 verkohlt im norwegischen Isdal gefunden wurde und deren Identität bis heute nicht geklärt werden konnte, Evas Mutter Ingrid zum Verwechseln ähnlich? Und weshalb reagiert Ingrid so abweisend auf Evas Nachforschungen?
Anja Jonuleit schickt ihre Protagonistin Eva Berghoff, ihres Zeichens Schriftstellerin, auf eine spannende und emotionale Spurensuche, die mit der Trennung der Zwillinge Ingrid und Margarethe in den Wirrnissen des Zweiten Weltkriegs beginnt. Der Leser taucht in zwei unterschiedlichen Zeitebenen in die Geschichte ein – diese Zeitsprünge sind auch deutlich durch Schriftänderungen markiert. Eine Ebene spielt in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts und schildert Margarethes Bestreben, ihre Schwester und Mutter wieder zu finden. Auf der zweiten Ebene, die im Jetzt spielt, begleitet der Leser Eva auf der Suche nach der Wahrheit ihrer Familie.
Ich persönlich bin ja ein großer Fan von Romanen, die auf zwei oder mehr Zeitebenen gleichzeitig erzählt werden. Ich liebe es, wenn man nach und nach immer nur gewisse Informationsfetzen erhält, die am Ende ein großes Ganzes ergeben – das lässt Raum für eigene Überlegungen bzw. in diesem Fall „Ermittlungen“. Daher finde ich die Wahl dieser Erzählweise auch für „Das letzte Portrait“ großartig gewählt.
Dass der Roman auf einer wahren Begebenheit basiert und Anja Jonuleit versucht, dieser Frau eine Geschichte zu geben, hat mich wahnsinnig berührt. Die Verflechtung aus Fakten und Fiktion ist ihr ausgezeichnet gelungen, zeigt aber auch sehr deutlich, welchen Raum für Interpretation es bei Mordfällen gibt, wo man von den Opfern selbst so gut wie nichts weiß. War die Isdal-Frau selbst Opfer? Zur falschen Zeit am falschen Ort? Hat sie sich mit den falschen Leuten angelegt oder sich in den falschen Kreisen bewegt? Die Wahrheit werden wir wohl nie erfahren, aber der Autorin ist es gelungen, eine plausible Geschichte aus diesem Rätsel zu zaubern. Dabei lässt sie jedes Kapitel mit einem kurzen Abschnitt des Artikels beginnen, der am 10. Jänner 2018 in der ZEIT veröffentlicht wurde. Sie erzählt in klarer, aber berührender Sprache die Geschichte einer Familie, die ihre dunkelsten Geheimnisse über die Jahre hinweg zu verbergen versucht – doch die Wahrheit kommt letzten Endes immer ans Licht.
Den Titel des Romans finde ich sehr passend, die Umschlagsgestaltung hingegen weniger. Diese ist mir beinah zu kitschig für einen Roman derartigen Kalibers. Auch die Ausgestaltung der Protagonisten ist durchaus gelungen, lediglich für den arroganten Universitätsprofessor konnte ich mich nicht erwärmen. Am Ende des Romans listet Anja Jonuleit noch Fakten zu den Geschehnissen 1970 auf. Absolute Leseempfehlung für diesen True-Crime-Roman!