Die Wunden der Kinder

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
owenmeany Avatar

Von

„Cold Cases“ wieder aufzunehmen lohnt sich wegen der modernen Analyseverfahren, allen voran die der DNA. Oftmals können dann kriminelle Taten noch nach Jahrzehnten aufgeklärt werden.

Aus diesem Grund rollte die norwegische Polizei im Jahr 2016 noch einmal den Fall der rätselhaften Isdal-Frau auf, die 1970 im gleichnamigen Tal nahe Bergen vergiftet und verbrannt gefunden worden war. Deutlich kann ich mich noch daran erinnern, welche Woge der Fall in der Presse schlug, besonders ausführlich und detailliert zum Beispiel in der ZEIT, sensationsheischend in den deutschen und norwegischen Boulevardmedien, die hier bei ungenierter Namensnennung zu Recht ihr Fett wegbekommen. Eindrücklich bleiben die Verfolgungsszenen der aufgewühlten Nichte durch skrupellose Reporter eines Revolverblatts im Gedächtnis der Leser haften.

Diese Berichterstattung hat Jonuleit dazu inspiriert, der Toten ein Gesicht und einen Lebenslauf zu verleihen. Das geschieht mit einer derartigen Stringenz und Plausibilität, dass es mich auf der Stelle begeistert hat: genauso hätte es sein können. Der Wikipedia-Artikel bestätigt das aber keineswegs, die durchaus vorhandene Quellensammlung habe ich nicht Punkt für Punkt überprüft, also lasse ich mich auf das Buch mehr im Hinblick auf seinen literarischen Gehalt ein.
Trotz einer insgesamt sachlichen Schreibweise gelingt es der Autorin, die handelnden Personen glaubwürdig zu charakterisieren. Die drei Handlungsstränge mit Margarete, Eva und Laurin im Mittelpunkt verflicht sie ohne unnötige Kapriolen, als Leser behält man den Überblick und kann dem Spannungsbogen folgen. Am Ende maßt sie sich keine letztgültige Aufklärung an, sondern lässt offene Fragen, besonders bezüglich des Fotografen, im Raum stehen.

Wieder einmal liegen die Wurzeln allen Übels in den Zeiten des Nationalsozialismus, der im Zweiten Weltkrieg ganz Europa mit seinen Tentakeln zerstörerisch überzog und dabei Mittel verschiedenster Art verwendete. In diesem Fall erhascht die getötete Frau das Thema Lebensborn als Ariadnefaden, entlang dessen sie versucht, ihre verlorene Familie zu finden, und verfängt sich gerade dadurch in den alten Seilschaften, die eine völlige Entnazifizierung auch Jahre nach dem Krieg verhinderten.

Man weiß nicht, ob es wirklich so war, aber es könnte so gewesen sein. Eine gut durchdachte logische Fiktion ist im Kern so wahr wie eine Dokumentation mit Lücken. Jonuleit hat aus einem mysteriösen Sachverhalt einen aufrüttelnden Roman mit einem interessanten Ermittlungsverlauf und einem Mehrwert an historischen Informationen geschaffen. Sie setzt sich dabei auch mit den sich aus den Indizien ergebenden Verdachtsmomenten Spionage und Prostitution auseinander. Ihr Hauptverdienst ist die Art und Weise, wie sie der Geschändeten eine Geschichte zuerkennt und damit ihre Würde wieder gibt – auch wenn es sich vielleicht ganz anders zugetragen hat.