Eine unbekannte Tote erhält eine literarische Identität

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In „Das letzte Bild“ greift Anja Jonuleit eines der größten Rätsel der Kriminalgeschichte, den mysteriösen und bis heute ungeklärten Mordfall der „Isdal-Frau“, auf und gibt der unbekannten Toten so eine fiktive Identität und eine Heimat. Dabei dient die wahre Begebenheit nur als Auslöser für die spannende Enthüllung eines historischen Familiengeheimnisses, das den Leser tief in die Verbrechen der Nazis eintauchen lässt.

Erzählt wird der Roman aus der Perspektive zweier Frauen. Einerseits ist da die Journalistin Eva, die in der Gegenwart in der Presse zufällig auf das Foto einer unbekannten toten Frau stößt, die ihrer Mutter zum Verwechseln ähnlich sieht. Bei ihrer weiteren Recherche stößt sie so auf den ungeklärten Mord an der sogenannten „Isdal-Frau“, die bereits Anfang der 70er Jahre in einem abgelegenen norwegischen Bergtal auf ungeklärte Weise zu Tode kam. Bis heute konnte die Identität der jungen Frau nicht geklärt werden. Angetrieben durch die Ähnlichkeit zu ihr und besonders ihrer Mutter macht sich Eva auf Spurensuche und entdeckt dabei viele Widersprüche und Ungereimtheiten in der Polizeiakte und in ihrer Familie. In diesem Kontext erfährt sie so von einer Zwillingsschwester der Mutter, Margarete, die auf tragische Weise im zweiten Weltkrieg verlorengegangen ist und nie wieder gefunden wurde. Wie besessen rekonstruiert Eva nun die Lebensgeschichte ihrer Tante und stößt unwillkürlich auf weitere Familiengeheimnisse. Alternierend zu Evas Perspektive sucht Margarete ihre Familie, die sie als Kind in Frankreich in einem Lebensborn-Heim verloren hat. Dabei werden ebenfalls viele kleinere und größere Geheimnisse preisgegeben.

Äußerst genau und fast schon detailversessen werden beide Suchen, die die Protagonisten und den Leser quer durch Europa und das 20. Jahrhundert führen, beschrieben. Aber gerade diese Details und die dadurch entstehende Dynamik verbinden die beiden Erzählstränge meisterhaft und binden den Leser an die Geschichte. Dieser kommt, so ähnlich wie Eva, häppchenweise hinter die Motive des Todesfalls und erfährt erst nach und nach die Identität der Toten und die Zusammenhänge. Der Weg, der Margarete letztlich in den Tod treibt, wird unglaublich dicht beschrieben und provoziert ein starkes Mitgefühl, das es beinahe unmöglich macht, das Buch aus der Hand zu legen.

Die Idee, der Unbekannten eine Heimat zu schenken, ist bereits großartig. Durch eine herausragende Recherche – die Fakten des realen Kriminalfalls sind am Ende des Buches aufgelistet - und ein gutes Händchen für eine gelungene Komposition ist hier ein Roman entstanden, der es vermag, seine Leser von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln. Meinerseits gibt es daher eine absolute Empfehlung für den Roman, denn der Leser bekommt gleich drei Genre in einem geboten: Familienroman, Krimi und wichtige Informationen über die Naziverbrechen im Kontext der Lebensborn-Heime!