Lebensbuch!

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»[…] und sie kann sehen, dass die Welt doch nicht endet, dass die Vorstellung, die Welt ende durch ein plötzliches Ereignis zu ihren Lebzeiten, nur selbstgefällig ist, dass das eigene Leben endet und nur das, dass das, was die Propheten singen, nur das Lied ist, das in allen Zeiten gesungen wird, die Zukunft des Schwerts, die Welt von Feuer verzehrt, die Sonne um Mittag in die Erde gesunken und die Welt in Dunkelheit gehüllt, der Zorn eines Gottes im Mund eines Propheten inkarniert, der gegen die Gottlosigkeit wettert, die vertrieben werden wird, und der Prophet singt nicht vom Ende der Welt, sondern davon, was getan worden ist und was getan werden wird und was manchen angetan wird, aber nicht anderen, […]«

Die nächsten Zeilen werden gleichermaßen Loblied wie Vorwarnung, denn Paul Lynchs Booker-Prize-gekrönter, fünfter Roman »Das Lied des Propheten« greift Leser:innen körperlich an und ist so unbedingt lesenswert wie gleichzeitig unerträglich zu lesen:

An einem dunklen, regennassen Abend in einem Vorort von Dublin öffnet die Wissenschaftlerin und vierfache Mutter Eilish Stack ihre Haustür und steht zwei Beamten der neu gegründeten irischen Geheimpolizei gegenüber. Sie sind gekommen, um ihren Mann Larry, den Stellvertretenden Generalsekretär der Lehrergewerkschaft, zu verhören. Eigentlich sind es bloß ein paar Fragen – aber Larry verschwindet kurz nach dieser Begegnung spurlos. Der Aufstieg des Totalitarismus beginnt schleichend. Erst wird ein Notstandsgesetz verhängt, das sämtliche Bürger:innenrechte aufhebt, bald schon gibt es Ausgangssperren, »fällt« das Internet aus. Die Republik Irland bröckelt bis sie zerbricht. In Eilishs Welt fehlt nun nicht mehr nur Larry, sondern auch klares Wasser und genügend Essen. Ausreisen können sie nicht, denn nicht alle Familienmitglieder haben einen gültigen Reisepass – und wie sollte Larry sie finden, falls er rauskommt, nein, wenn er rauskommt?

In einzigartiger Stream-of-Consciousness-Manier folgen Leser:innen Eilishs Gedanken in Lichtgeschwindigkeit! Lynchs Sprache − von Eike Schönfeld meisterhaft übersetzt! − ist so nah an Lyrik, dass ihr Rhythmus jeden Satz bis in die letzte Kadenz zum Klingen bringt. Beim Lesen überträgt sich die Not der Familie auf den eigenen Körper, lässt den Atem stocken, beschleunigt den Puls. Es ist der Reflex, wegzuschauen. Die Augen suchen nach einem Absatz, einem Satzende, einer Pause von all dem Grauen. Aber Eilishs Realität kennt keine Atempause, wie Lynch hier stilistisch doppelt zu unterstreichen weiß. Doch die seitenlangen Schachtelsätze sowie die fehlende direkte Rede haben mich vollends in ihren Bann und existenziell in Mitleidenschaft gezogen! Ich habe diese Dystopie atemlos gelesen, jeden Moment gleichermaßen geliebt und gehasst. Ich habe gehofft und geweint, mitgefiebert und resigniert. Kein Satz ist spurlos an mir vorbeigegangen, und auch nachträglich gehe ich in Gedanken immer wieder zurück zu einigen Szenen. »Das Lied des Propheten« lässt mich nicht los, nicht zuletzt, weil es die Hässlichkeit autoritärer Welten aufdeckt und eindrucksvoll zeigt, wie schnell auch ein demokratisches System kippen kann. In Zeiten des erstarkenden Faschismus in Europa ist es leider brandaktuell und wichtiger denn je – riesengroße Leseempfehlung für dieses neue Lebens- und Lieblingsbuch von mir!