Ein sozialromantisches Märchen

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affectionista Avatar

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DAS MÄDCHEN MIT DEM FINGERHUT erzählt von einem kleinen Kind, das (fast) nichts spricht und von seinem Onkel im Winter in einer fremden Stadt mit fremder Sprache ausgesetzt wird. Es muss sich um eine europäische Stadt handeln, das ahnt man zuerst, und ist sich dann sicher, als einmal ein Fünfeuroschein erwähnt wird. Sonst weiß man nichts, so wie das Mädchen. Die Geschichte wird zwar auktorial erzählt, aber bleibt ganz nah an der Perspektive des Kindes.

Das fand ich schon in der Leseprobe spannend: Dass man nicht mehr weiß als das Mädchen. Man ist genau so verloren zwischen den fremden Eindrücken wie das Kind. Das lässt die Geschichte zeitlos wirken, ein bisschen wie ein Märchen, aber eher eines von Hans Christian Andersen als von den Gebrüdern Grimm. Das hat mich neugierig gemacht: Was ist das Geheimnis des Mädchens? Woher kommt es? Was hat der Onkel damit bezweckt, es plötzlich im Stich zu lassen? Und genau da wird es für mich mühsam. Denn die Geschichte kommt zwar äußerlich voran – das Mädchen landet im Heim, lernt dort zwei andere Kinder kennen, und eine kleine Odyssee beginnt. Aber innerlich tut sich wenig, und die Fragen werden nicht beantwortet. Es gibt auch keinen doppelten Boden, keine viel tiefere Ebene als diese Hülle der Geschichte eines (Flüchtlings?-)Mädchens, das mitten unter uns komplett verloren geht und nur damit beschäftigt ist, ihren Hunger zu stillen und nicht zu sterben.

Das mag eine ehrenwerte Botschaft sein, aber mir hat das nicht genügt. Dazu kommt noch der schlichte Stil, in dem kein Satz länger als zehn Wörter ist, und wenn doch, dann darf er nur in Form von Hauptsatzreihen existieren. Mir war das irgendwann zu monoton, zu einfach, ohne smart zu sein, oder mir durch die Schlichtheit neue Türen aufzustoßen.

Es gab außerdem Stellen, die ich pathetisch fand, und teilweise auch ärgerlich. Da erträumt sich das Mädchen, das nicht älter als sechs sein kann, eine Zukunft mit dem Buben, der sie begleitet, und darin ist sie die Ehefrau, die für ihn kocht, und er beschützt sie. Jetzt stimmt das zwar aus der Figur heraus, denn das ist vermutlich das einzige, was das Mädchen jemals als Geborgenheit bei Erwachsenen beobachtet hat, daher ist es logisch, dass das zum Sehnsuchtsort wird. Mir war das aber zu platt und auch auf eine Weise zu sozialromantisch. Spätestens da hatte mich die Geschichte endgültig verloren.

Wobei, ganz stimmt das nicht. Gegen Ende tritt noch eine Figur auf, sozusagen eine Hexe, die dem Mädchen scheinbar gutes will, aber böses schafft, indem sie es einsperrt. Das fand ich wirklich interessant, und auch im Licht der aktuellen Entwicklungen im Umgang mit den Flüchtenden hierzulande sehr brisant. Weil ich das selbst am Rande beobachtet habe, wie eine gut gemeinte Hilfsbereitschaft plötzlich in Bevormundung kippt und sich dadurch offenbart, wie komplex das menschliche Miteinander oft ist. Das war aber dann auch die einzige spannende Ambiguität, die ich für mich in diesem Buch gefunden habe.