Kein schöner Land in dieser Zeit ....

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Ein sechsjähriges Flüchtlingskind ist die Protagonistin in Köhlmeiers neuem Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut". Wie und warum bzw. wann und mit wem sie in Westeuropa gestrandet ist, bleibt bis zum Ende im Dunkeln.

Das einzige Wort in Landessprache, das die Kleine kennt, ist "Polizei". Von ihrem "Onkel" wird ihr immer wieder eingeschärft, sobald sie es höre, soll sie schreien, so laut sie kann. Ausgangspunkt der Geschichte ist der städtische Markt. Ihr "Onkel" schickt sie dorthin, in der Hoffnung, dass sie einen barmherzigen Händler findet, der ihr zu essen gibt. Die Rechnung geht auf... Nach Ladenschluss wartet sie immer an gleicher Stelle auf den "Onkel". Doch eines Abends wartet sie vergeblich...

Ohne Orientierung irrt sie durch die Straßen, sucht in einem Müllcontainer nach Essen und schläft schließlich vor Erschöpfung dort ein. Am nächsten Tag setzt sie ihre Odyssee durch die Stadt fort, wird schlafend im Windfang eines Kaffeehauses aufgelesen und von der Polizei in ein Kinderheim gebracht. Liebevoll und fürsorglich wird sie hier von einer Schwester aufgenommen. Im Heim trifft sie auf zwei etwas ältere Jungen. Einer davon spricht ihre Sprache. Er überredet sie dazu, aus dem Heim zu türmen. Sie geht mit...

Die Drei schlagen sich tagelang bei Regen und Schnee irgendwie durch. Geschlafen wird in einem Heustadel. Schließlich folgen Diebstähle und ein Einbruch. Sie werden aufgegriffen und landen auf einem Polizeirevier. Wieder überredet sie der Älteste zur Flucht. Genau in dem Moment, als sie weglaufen wollen, geraten die Kinder auf der Polizeistation in eine Schlägerei. Der 14-jährige bleibt zurück... Das ziellose Herumirren beginnt von vorne - und endet zum Schluss mit einem Totschlag...

Zu Köhlmeiers Schreibstil:
"Was immer Du schreibst - schreibe kurz, und sie werden es lesen, schreibe klar, und sie werden es verstehen, schreibe bildhaft, und sie werden es im Gedächtnis behalten", lautete schon die Kernbotschaft von Joseph Pulitzer. Der knappe prägnante Erzählstil ist geschickt gewählt - mit einprägsamem Sprachbild für diese entwurzelten Kinder, die durch eine ihnen völlig fremde Welt stolpern, ohne zu wissen, wohin.

Gesamteindruck:
Das Thema ist zeitlos und aktueller denn je. Tausende unbegleitete Minderjährige sind "in Tagen wie diesen" unterwegs. Alle haben das gleiche Schicksal: Sie sind auf der Flucht aus Krisenregionen. Erhoffen sich in Europa, dem "goldenen Westen", eine Perspektive für ihre Zukunft, Frieden, Sicherheit und Schutz vor Verfolgung. Die hätten diese Kinder vielleicht sogar gehabt, wenn denn nicht des Autors Phantasie in eine andere Richtung gelaufen wäre.

In diesem Buch bleiben für mich zu viele Fragen offen. Man erfährt als Leser nichts über die Herkunft der drei. Ja, wir wissen nicht einmal, ob der besagte "Onkel" wirklich ein Verwandter ist oder nur jemand, der sich, aus welchen Gründen auch immer, der "Yiza" angenommen hat. Von den Eltern keine Spur. Eigenartig, um nicht zu sagen unbegreiflich, dass ein Kind nicht mal seinen Namen kennt. Noch merkwürdiger, warum sie den "sicheren Hort" Heim verlassen hat oder weshalb die Jungen dort nicht bleiben wollten. Dass sie dann von einer Katastrophe in die nächste fallen, ist ein gespenstisches Wetterleuchten. Das "Finale" in der Villa war mir, wenn ich ehrlich bin, zu guter Letzt einen Tick zu dick aufgetragen. Das hätte es (nach meinem Dafürhalten) nicht gebraucht!


So - und nun noch eine Nachricht an den Hanser Verlag:

Könnten Sie bitte bei einer Neuauflage folgendes korrigieren:
Seite 130, Zeile 10: Sie sagte, sie müsse zur Toilette, ob sie (im Buch heißt es die statt sie) dürfe
Seite 139, Zeile 1 und 2: Der Korrektor sollte mit frischem Blick an den Satz herangehen. Hier ist offensichtlich etwas "schiefgelaufen" ...
Und weil ich schon beim Meckern bin: Das Wort "Huanzen" auf Seite 62 war mir (weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen) gänzlich fremd. Google sei Dank habe ich schließlich doch noch herausgefunden, wovon die Rede ist. Bestimmt lässt sich für "Huanzen" ein anderes Wort finden, das der Leserschaft geläufiger ist als eines, das nicht einmal der Duden kennt.

Mit wohlgemeinten Grüßen, Amadea