Meine Sprache – deine Sprache

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hesi Avatar

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Das Mädchen, das erst im Laufe des Romans zum „Mädchen mit dem Fingerhut“ wird, ist das Zentrum, der Dreh- und Angelpunkt dieser Geschichte. Von einem Mann, der ihr Onkel ist, wird sie in ein Geschäft auf dem Markt geschickt. Nichts sagen soll sie, aber der Inhaber sei ein guter Mann, der ihr früher oder später etwas zu essen geben würde. Und am Abend, wenn der Onkel vor dem Geschäft pfeift, soll sie wieder davonlaufen und an der verabredeten Stelle auf ihn warten.
Doch eines Abends ist der Onkel nicht da und die Odyssee des Mädchens beginnt. Nach einer Nacht in einem Müllcontainer sucht sie Zuflucht im Windfang eines Caféhauses, wird aufgegriffen und von der Polizei in einem Heim abgegeben. Dort begegnet sie anderen Kindern, die ein ähnliches Schicksal haben. Eines von ihnen spricht ihre Sprache …
Was sich zunächst fast wie eine Abenteuergeschichte liest, wird mehr und mehr zu einer Irrfahrt durch eine Welt, deren Sprache und Regeln sich den Protagonisten kaum erschließen.
Und die, die vermeintlich helfen wollen, verfolgen ihre eigenen Interessen. So wird das Mädchen auch zu einem Spiegel für diejenigen, die seinen Weg kreuzen.
Köhlmeier erzählt nichts Neues, Überraschendes, nichts, was man nicht weiß oder wissen könnte. Und doch hat man es nicht gewusst, nicht im Bewusstsein gehabt. So nehmen wir eine Welt, die uns vertraut ist, auf einmal aus einer völlig anderen Perspektive wahr, und entdecken gleichzeitig eine Art Paralleluniversum. Seine Sprache ist dabei einfach, reduziert, knapp – und sagt doch alles Wesentliche. Er erzählt distanziert und zugleich eindringlich und so begleitet das „Mädchen mit dem Fingerhut“ auch nach dem Ende der Lektüre den Leser noch einige Zeit – und manchmal nimmt man die Welt für einen kurzen Moment aus seinem Blickwinkel wahr.