Wahn und Wirklichkeit

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tokall Avatar

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Thriller, die mich von Anfang bis Ende begeistern können und richtig packen, gibt es leider nur selten. Immer wieder freue ich mich, wenn ich ein Werk in den Händen halte, das mich vollkommen überzeugt. Und der neue Roman „Das Nachthaus“ von Jo Nesbo, der v.a. durch seine Reihe um Harry Hole bekannt geworden ist, gehört definitiv dazu. Allerdings warne ich vor: Der Thriller besticht in meinen Augen durch seine Irritationseffekte und dem Spiel von Wahn und Wirklichkeit. Man fragt sich ständig, was ist eingebildet, was ist real. Auf so etwas sollte man sich thematisch einlassen wollen. Es sagt bestimmt nicht jedem/jeder zu. Mir hat die Lektüre aber richtig Spaß gemacht, weil ich viele Motive entdeckt habe (z.B. das Traummotiv, das Motiv des künstlichen Menschen, die Thematisierung der Krankheit „Schizophrenie“), die bis in die Epoche der Romantik zurückreichen und weltliterarische Bedeutung haben (hier sei z.B. ein Verweis auf E.T.A Hoffmanns Werk „Der Sandmann“ gestattet, das ich in diesem Zusammenhang wärmstens empfehlen kann). Auch Anspielungen auf Kafkas „Verwandlung“ findet man. Klasse! Das hat das Buch von Nesbo noch zusätzlich einmal aufgewertet.

Schon auf den ersten Seiten schafft es der Autor, den Leser/ die Leserin maximal zu irritieren. Zwei Freunde spielen zusammen am Fluss und begehen einen Telefonstreich. Und dann wird einer der Jungen vom Telefon aufgefressen (ja, das ist kein Autokorrektur-Fehler) und verschwindet spurlos. Das ist zumindest das, was der Ich-Erzähler Richard der Polizei und seinen Eltern erzählt. Und als Leser fragt man sich natürlich zwangsläufig: Bildet sich Richard das ein? Was ist tatsächlich passiert? Steht Richard womöglich unter Schock, so dass ihm die Phantasie einen Streich spielt? Oder haben wir es etwas mit einem Horror-Roman zu tun, wo Übersinnliches als Handlungselement auftritt? Die Polizei vernimmt Richard und glaubt, er habe etwas mit dem Verschwinden seines Freundes zu tun. Natürlich glaubt ihm niemand seine Geschichte. Wahn und Wirklichkeit vermischen sich. Und ich war sehr auf die Auflösung gespannt, konnte mir aber aufgrund meiner Lesesozialisation aber schon früh denken, in welche Richtung sich das Werk entwickelt (was meine Lesefreude aber nicht getrübt hat, weil ich auf die Umsetzung des Themas gespannt war).

Geschickt ist natürlich auch die erzählerische Gestaltung. Da wir an Richards Perspektive gebunden sind und nicht von außen auf die Geschehnisse schauen können, können wir seine Wahrnehmung nicht überprüfen. Auch die Gespräche mit anderen Figuren erlauben keine Rückschlüsse darüber, was echt und was eingebildet ist. Es machte auf mich den Eindruck, als sei Richard in seiner eigenen Gedankenwelt gefangen und wir als Leser:in mit ihm. Und immer wenn man als Leser:in das Gefühl hat, das sich die Situation doch wieder normalisiert und womöglich endlich aufgeklärt wird, wird es doch wieder brüchig und man beginnt an den geschilderten Ereignisse zu zweifeln, weil man Richards Wahrnehmungen nicht vertraut. Man wird beim Lesen ständig verunsichert. Großartig! Und noch etwas, das hervorragend arrangiert wurde: Es gibt Wendungen, die die Erwartungshaltung der Leser noch einmal komplett durchbrechen und auf den Kopf stellen. Verschiedene Erzählebenen kommen plötzlich ins Spiel. Und ich wünschte mir einfach irgendwann nur noch, dass die Handlung irgendwie sinnvoll aufgelöst wird. Genial!

Und ich kann beruhigen: Die Auflösung am Ende lässt keine Wünsche offen. Alles ergibt Sinn und ist durchdacht, logisch und in sich schlüssig. Bitte mehr solcher Bücher! Und begleitend zur Lektüre kann man auch wunderbar über das Thema „Realität“ nachdenken. Was ist Realität? Ist sie überhaupt objektiv zu erfassen? Ist sie nicht eine individuelle Konstruktionsleistung des Gehirns? Und wer kann von sich eigentlich behaupten, dass die eigene Konstruktion von Wirklichkeit überhaupt stimmt. Von mir gibt es für dieses außergewöhnlich gelungene Werk 5 Sterne!