Bildgewaltig und auch inhaltlich eine Wucht

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Auch wenn man sagt „Don´t judge a book by its cover.“, so ist das hier ausdrücklich gestattet. Den Buchumschlag würde ich mir direkt so eingerahmt an die Wand hängen und auch der eigentliche Einband besticht mit seinem Fellmuster sehr durch seine Optik. Die Liebe zur Gestaltung zieht sich über den prägnanten Farbschnitt und die Folienprägung bis in das Innere des Buchs mit seinen wundervollen Fotografien durch.
Spoiler: Der Inhalt kann spielend mit dieser außergewöhnlich wertvollen Gestaltung mithalten. Wir begleiten Boris Herrmann, einen renommierten Journalisten, der als Korrespondent für die SZ tätig ist, entlang eines Interviews mit Sarah Darwin, promovierte Botanikerin und Ururenkelin von Charles Darwin, und mit ihrem Ehemann, Johannes Vogel, Professor für Biodiversität und Wissenschaftsdialog an der HU und Direktor des Museums für Naturkunde in Berlin. Ein Glück, dass diese beiden sich vor vielen Jahren in London kennen gelernt haben. Man spürt durch das ganze Gespräch hindurch, dass sie für einander bestimmt sind und ihr Leben derselben Sache gewidmet haben: Der Begeisterung für die Natur um uns herum und für die Wissenschaft an sich. Der dritte major player im Gespräch, nur ohne selbst im klassischen Sinne zu sprechen, ist das Naturkundemuseum in Berlin. Ich persönlich liebe dieses Museum und es hat für mich seit meinen ersten Besuchen in früher Kindheit mit meinem Großvater, der einen Präparator dort persönlich kannte und so für mich ein Blick hinter manch eine Kulisse möglich wurde, eine ganz besondere Bedeutung. Wie beeindruckend allein die Fotografien der Sammlungen in diesem Buch sind, klang bereits an.
Nun bleibt die Frage, wie sich das bisher Beschriebene mit dem politisch anmutenden Titel in Verbindung bringen lässt. Bereits nach einigen Seiten wird das überaus deutlich: Der Schutz und die Bewahrung der Natur um uns herum, ist aus Sicht der beiden Forschenden das oberste Gebot unserer Zeit. Doch auf welchen Fakten können Maßnahmen basieren, die wir für dieses Ziel umsetzen können? Hier werden die großen naturkundlichen Sammlungen ins Spiel gebracht, wie die wundervoll kuratierte in Berlin. Aus den ausgestellten und den unzähligen im für die Öffentlichkeit Verborgenen gelagerten Exponaten lassen sich Schlussfolgerungen zu Prozessen, Entwicklungen, Anpassungen über die Jahrtausende hinweg ableiten und daraus wiederum Strategien, mit deren Hilfe wir vermeiden können, dass die Anzahl der ausgelöschten Arten immer rapider zunimmt. Die Natur und die Wissenschaft können so Berater der aktuellen Politik werden. Johannes Vogel bringt es im Buch auf den Punkt: „Nichts ist so politisch wie die Natur.“
Hält man sich vor Augen, dass der Konsens, dass faktenbasiertes Wissen die Grundlage unserer Entscheidungen darstellen sollte, innerhalb von kürzester Zeit verloren gegangen ist, so kann man nur betonen, dass dieses Buch genau zur richtigen Zeit erschienen ist. Genau aus diesem Grund war es auch direkt so interessant für mich, ergänzt durch die Begeisterung für die Gestaltung. Es stimmt mich hoffnungsvoll, dass so lange zwei Menschen, die so mit Leidenschaft für ihre Lebensaufgabe brennen, in unserer Welt Gehör finden, noch nicht alles verloren ist.
Dabei ist es aber für den Lesenden keineswegs so, dass wir uns entlang der gesamten Lektüre schuldig einem Weltuntergangsszenario ausgesetzt fühlen. Ich persönlich hätte allen drei Gesprächsteilnehmenden noch deutlich länger „zuhören“ können. Ausführungen über notwendige Opferbereitschaft in den nächsten Jahrzehnten werden begleitet von Anekdoten über die Galapagos-Tomate, über die Dummheit von Menschen und Ziegen und über den Umgang mit dem Klebe-Anschlag auf ein Dinosaurier-Skelett im Jahr 2022.
Einige Passagen des Buchs empfand ich auch als sehr berührend. Sarah Darwin spricht über die poetische Bedeutung der Beziehung von Mensch und Natur und wie uns das in jüngster Kindheit als selbstverständlich erscheint, sie beschreibt wie Kinder ihre Umgebung entdecken und stellt die Fragen, was mit dieser Neugierde allem gegenüber auf dem Weg ins Erwachsenenleben passiert. Hier zeigt sich auch die philosophische Ebene des Buchs. Wohin verschwindet diese Begeisterungsfähigkeit und warum werden Menschen, die sie sich bewahren, von ihrem Umfeld oft als naiv oder skurril wahrgenommen? Auch in dieser Hinsicht macht das Buch Mut: Es ist manchmal traurig, eine Ausnahme zu sein und beispielsweise mit einer Avocadopflanze befreundet zu sein, aber noch viel trauriger ist es, keine Ausnahme zu sein. Wie wunderbar ist es, so sehr für die Wissenschaft, die Natur und seine Überzeugungen zu leben und zu brennen, ein wahres Privileg.
Die Brücke von den beiden Interviewten zu einem anderen großen politischen Naturwissenschaftler mit Wirkungsstätte in Berlin, Rudolph Virchow, die als Assoziation in einem Journalistinnen-Zitat im Klappentext geschlagen wird, ist auch mir direkt in den Sinn gekommen. Wir müssen mit wissenschaftlichen Methoden von der Natur lernen, was uns und sie retten kann und diese Maßnahmen dann auf politischer Ebene umsetzen.
Fazit: Klare Leseempfehlung an all jene, die im Weltschmerz gelegentlich übersehen, dass es noch Mitstreiter gibt. Und natürlich an all jene, die Entscheidungsträger sind und sich auf Fakten-basierte Entscheidungen rückbesinnen sollten. Die Hoffnung stirbt zuletzt.