Brunnen der Erinnerung

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amara5 Avatar

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Mit „Das Pferd im Brunnen“ veröffentlicht die bekannte Schauspielerin Valery Tscheplanowa ein bemerkenswertes literarisches Debüt, das mit Sinnlichkeit, Lakonie und sprachlicher Raffinesse kaleidoskopartig den familiären Wurzeln und facettenreichen Erinnerungen in der ehemaligen Sowjetunion nachspürt.

Anhand von vier Frauengenerationen (Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und der klug-reflektiert erzählenden Tochter) webt Tscheplanowa voller poetischer und berührender Sprachbilder ein dichtes Geflecht von starken Frauen, die das Familienleben abseits der Männer am Laufen halten, und flechtet gekonnt historische Zeitgeschichte ab Mitte des 20. Jahrhunderts mitein. Einst wie Protagonistin Walja in einem Kurort bei Kasan geboren und nach Deutschland ausgewandert, erzählt die Autorin hier zwar autofiktional, aber stark autobiografisch geprägt von der Annäherung an die russische Heimat. Ihre Themen sind neben dem schwierigen Weiterleben nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion das Sterben, die Liebe und die Suche nach Verbundenheit sowie verlorener Zeit. Dabei beobachtet sie die liebenswerten, verschrobenen Eigenarten ihrer Protagonist*innen ungemein subtil, detailliert sowie schwarzhumorig und setzt sie präzise mit umwerfenden Metaphern in ihre Umgebung und landespezifischen Prägungen.

Das titelgebende Pferd liegt einer weitergetragenen Erzählung von Onkel Mischa nach als Gerippe auf dem Grund eines stillgelegten Brunnens – Ich-Erzählerin Walja blickt bei ihrer Rückkehr ins Haus ihrer Kindheit nach Kasan auch eindringlich-faszinierend in den Brunnen ihrer lebendigen Erinnerung der familiären Herkunft. Dabei geht Tscheplanowa erzählerisch in den Zeiten sprunghaft und episodisch vor – kleine, voneinander autonom wirkende Kapitel schildern mit sprachlicher Wucht und Nuanciertheit das Alltagsleben der Frauen in Kasan, aber auch das der Protagonistin in Deutschland an einer Bundesstraße. Und doch ergeben die gewürfelten Erinnerungsfragmente am Ende ein stimmiges Gesamtbild über den stetigen Rhythmus des harten Lebens in der alten Heimat und Walja resümiert ergreifend, was sie alles von den disziplinierten Frauen in sich trägt trotz dem unaufhaltsamen, schnellen Lauf der jahrzehntelangen Zeit.

„Wenn ich in den Spiegel sehe, erkenne unter meiner Haut ihre Haut. Sie hat sich in mich verwandelt, ich erzähle sie weiter, bin ihr Echo. Unsere Haut ist eine Geschichte, die wir fortschreiben. Wir beschreiben sie mit den Kümmernissen und Freuden, die sich in sie eingraben.“ (S. 187)

Ein bewegendes, kraftvolles und zugleich feinfühliges Debüt voller schillernder Sätze, empathischer Beobachtungen und poetischen Reflektionen über die menschliche Existenz!