Sprachlich und inhaltlich überzeugend

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leukam Avatar

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Valery Tscheplanowa, 1980 in der Sowjetunion geboren und im Alter von acht Jahren nach Deutschland übergesiedelt, hat sich als Schauspielerin auf deutschen Bühnen einen Namen gemacht. In Literaturkreisen kennt man sie noch nicht, doch das dürfte sich nach ihrem Debutroman nun ändern.
Stark angelehnt an ihre eigene Familiengeschichte erzählt sie von vier Generationen von Frauen im Russland des 20. und 21. Jahrhunderts und damit gleichzeitig vom Alltag im Land.
Die Ich- Erzählerin Walja begibt sich nach dem Tod von Großmutter Nina auf Spurensuche nach ihrer „ in Stücke geschlagenen Familie, verstreut auf Europa und Russland“.
Es beginnt mit Urgroßmutter Tanja, die, wie alle Frauen der Familie, früh ihre Kinder bekommt. Ein Sohn stirbt, der Mann fällt im ersten Weltkrieg.
Die Tochter Nina muss deshalb schon als kleines Kind mithelfen. Eine Kindheit ohne Vater und voller Plackerei lässt diese hart werden gegen sich und ihre Nächsten. Für die Tochter Lena und Sohn Mischa bleibt wenig Liebe und Zärtlichkeit. Ehemann Jura wird sie zwar lieben, aber ständige Streitereien und Schuldzuweisungen treiben ihn aus dem Haus.
Auch die nächste Frauengeneration wird nicht glücklich. Bei ihrer Arbeit auf einem Kreuzfahrtschiff lernt Lena einen älteren Alleinunterhalter kennen und folgt diesem nach Deutschland. Ein paar Jahre wird sie mit ihrer kleinen Tochter Walja bei ihm in einem Haus an der B77 wohnen, bevor sie sich von ihm trennt.
Es sind kurze Kapitel, die Momentaufnahmen aus dem Leben der Figuren beleuchten. Dabei geht die Autorin keineswegs chronologisch vor. Erst nach und nach erschließen sich dem Leser so die Charaktere der Figuren und man kann Verständnis für ihr Verhalten entwickeln.
Tanja ist noch stark in bäuerlichen Strukturen verwurzelt. Sie verbringt die meiste Zeit ihres Lebens in ihrem Häuschen auf dem Land, wühlt und gräbt in der Erde, füttert ihre Hühner und füllt mit ihren eigenen Haaren ihr Totenkissen. Sie betet vor der Ikone an der Wand und lässt ihre Urenkelin heimlich taufen, was zu dieser Zeit in der Sowjetunion verboten ist.
Nina träumt von einem Studium der Medizin. Stattdessen wird sie ihr Geld als Krankenschwester in der Psychiatrie, im Prothesenwerk und als Kindergärtnerin verdienen.
Beide , Großmutter und Urgroßmutter, sind starke, beeindruckende Frauen. Stark müssen sie auch sein, ihr Alltag verlangt alles von ihnen. Ein Leben voller Arbeit und Entbehrungen und begrabener Träume. Männer spielen oft nur eine kurze Rolle.
Dabei erfährt der Leser auch viel von der Realität im Sozialismus. Beengte Wohnverhältnisse, Schlangestehen für das Notwendigste gehören dazu.
Unterschiede zwischen Deutschland und der Sowjetunion erfahren Lena und Mischa, der ihr nach Deutschland nachfolgt. Der Bruder wird Jahre später frustriert in die Heimat zurückkehren.
Und als 1991 Gorbatschow entmachtet wird, zerbricht die alte Sowjetunion. „ Für die Menschen aber ist der Wandel in den Neunzigerjahren verheerend. Wie eine schützende Decke ist der Kommunismus über ihren Köpfen weggerissen worden, und nun ist Selbständigkeit gefragt. Woher aber Selbständigkeit nehmen, wenn man ein Leben lang Gehorsam gelernt hat? Eine kleine, freche Gruppe teilt das große Russland in große Stücke und macht großes Geld, während der Rest den Kopf einzieht und in seiner Erinnerung wohnen bleibt.“
Die Autorin schafft so, neben ihrer Kritik am sowjetischen System, Verständnis für die Menschen, die darunter leben.
Mit ihrer bilderreichen Sprache entwickelt Valery Tscheplanowa Szenen, die im Gedächtnis bleiben. Humorvolle, wie jene, als Lena ansteht, um Eier zu kaufen. Je länger sie warten muss, desto höher steigt die Anzahl der Eier, die das Warten rechtfertigen sollen. Am Ende werden es neunzig Eier sein, die Lena stolz nach Hause bringt und am Abend wird mit Freunden gemeinsam in der Küche gekocht, gebacken und gegessen.
Daneben finden sich auch eindringliche Bilder wie die vom Sterben Ninas. Ganz unsentimental und sachlich beschreibt die Autorin die Abläufe im Körper während des Todes. Trotz dieser Nüchternheit berührt diese Szene ganz stark.
So überzeugt Valery Tscheplanowa in ihrem Debut nicht nur mit einer fesselnden Familiengeschichte, sondern genauso mit ihrem literarischen Können.
Man darf gespannt sein auf weitere Bücher aus ihrer Feder.