Atmosphärisch bedrückend

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Weshalb ausgerechnet er zu der berühmten Architektin gerufen wird, erfährt der Schriftsteller gleich zu Beginn bei einem Empfang zu Ehren der 100-Jährigen: Er ist ein Autor, der Fiktives als Wahres verkauft, weshalb die Leser*innen sich nie sicher sein können, wann er die Wahrheit sagt. Dieser Umstand führt dazu, dass Anouk Perlemann-Jacob ihm ihre Geschichte erzählt. In etlichen Treffen berichtet sie, und er hört zu. Ihre Geschichte handelt von einem zerrissenen Russland nach dem Krieg. Von Vertreibung und Flucht. Und einer unheimlichen Schifffahrt mit langen toten Tagen.

Das Gerüst des Romans wurde bereits mehrfach verwendet. Fundament der Geschichte ist ein Gespräch zwischen einer alternden Figur kurz vor dem Tod und einem Auserwählten, der die Informationen verantwortungsbewusst aufarbeitet und der Nachwelt präsentiert. Dieses Gespräch findet in etlichen Treffen statt, die lediglich von gemeinsamen Mahlzeiten und Alkohol unterbrochen werden. Die alternde Figur ist dabei entweder berühmt und/oder wohlhabend.

Hier verkörpert die 100-jährige Anouk Ersteres. Anouk ist weise. Sie hat ihre Weisheit aufgrund ihres Alters und ihrer Erfahrungen erlangen können. Gleichzeitig hat sie etwas Bissiges. Sie spricht aus, was sie denkt, ohne Rücksicht auf ihr Gegenüber.
Der Schriftsteller hingegen bleibt weitestgehend fremd. Die Leser*innen erfahren, dass er eine Familie in Vorarlberg hat. Immer wieder werden Gedanken zu dem Gesagten geäußert. Eine Identifikation bleibt unmöglich.

Doch die eigentliche Handlung spielt auf dem sogenannten Philosophenschiff. Ein Schiff, auf dem lediglich zwölf Akademiker aus Russland gebracht werden, da sie dem System andernfalls gefährlich werden könnten. Mitten auf dem Meer bleibt das Schiff stehen. Die wenigen Passagiere bleiben im Ungewissen. Sie fürchten um ihr Leben. Sie werden nervös. Sie sehen nichts. Es gibt lediglich die Vermutung, dass jemand an Bord gegangen ist.
Diese Vermutung ist es, die die Spannung aufrechthält. Gleichzeitig wird die Atmosphäre so erdrückend wie die Wände einer Ditte-Klasse-Kabine.

Nein, Michael Köhlmeier hat nichts Neues geschaffen. Doch das Gerüst des Gesprächs zwischen zwei unterschiedlichen Menschen funktioniert. Wozu es ändern? Denn es geht um den Inhalt der Unterhaltung. Und der ist in diesem Fall so geladen wie die Stimmung in Russland nach Kriegsende.

Ein schönes Stück Literatur!