Der Intellektuellenexport

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wilde hummel 1 Avatar

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Nach dem Roman Frankie von Michael Köhlmeier hatte ich mich sehr auf den neuen Roman 'Das Philosophenschiff' gefreut und wurde nicht enttäuscht. Allerdings ist dieser Roman ein völlig anderes Genre - eine Geschichtsfiktion in Zeiten des bolschewistischen Terrors. Als Rahmen des Romans lässt der Autor eine 100-jährige Architektin mit russischen Wurzeln ihre Biografie erzählen und sie bittet einen Schriftsteller um Gehör. Anouk Perlemann-Jacob ist in St. Petersburg geboren und 1922 als 14-jährige zusammen mit anderen Intellektuellen aus dem damaligen Russland ausgewiesen worden. Frau Perlemann-Jacob, eine weltbekannte Architektin ist bloße Fiktion, die sog. Philosophenschiffe gab es 1922 jedoch tatsächlich. Der Export von Groß- und Bildungsbürgern ist in Zeiten von Revolution als Maßnahme humanitärer Vorausschau beschrieben. Egal ob Trotzki, Lenin, Nikolei Gumiljow und viele andere russische Bürger, alle sind den Wirren, dem allgemeinen Misstrauen und dem bolschewistischen Terror ausgesetzt. Michael Köhlmeier beschreibt eine Zeitspanne, die geprägt war von großen Unruhen, schnellen Wechseln, gesellschaftlichen und politischen Ideen und deren Widerstreit. Ein raffinierter Schachzug ist die Idee, Lenin selbst als Exilanten auf das Schiff zu verfrachten. Im Roman tummeln sich zahlreiche russische Persönlichkeiten und ich mache mir nicht die Mühe, sie alle auf ihre real existierende Biografie zu überprüfen, denn die Wahrheit einer Zeit hängt nicht allein an Fakten, sondern auch an möglichen Verknüpfungen. Leider ist die Biografie der Hauptprotagonistin nur auf eine kurze, allerdings turbulente Lebensphase beschränkt. Bei einer 100-jährigen wären sicher noch viele Details erzählenswert. Insgesamt jedoch hat Herr Köhlmeier wieder einmal mit seinen historischen Recherchen einen spannenden und lesenswerten Roman geschrieben.