„Die Wahrheit ist die Erinnerung an sie“

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stina23 Avatar

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Frau Professor Anouk Perleman-Jacob, eine hundertjährige Dame, will ihre Lebensgeschichte verfasst wissen, bevor sie stirbt. Zu diesem Zweck lädt sie den Schriftsteller Michael Köhlmeier in ihre Villa in Wien ein und beginnt zu erzählen…von ihrer Kindheit in St. Petersburg, den politischen Umbrüchen, dem erst feudalen, dann von Armut geprägten Leben, ihren Eltern und ihren Bekannten, die politisch mehr oder weniger aktiv und bedeutend sind, vor allem aber von der Angst, die alle immerzu begleitet. Besonders als sie mit 14 Jahren mit ihren Eltern auf ein Luxusschiff verfrachtet wird und sich dort als eine von nur zwölf Auserwählten wiederfindet, die Russland verlassen müssen oder dürfen, ist die Angst ausspioniert und getötet zu werden dauerhaft präsent. „Philosophenschiffe“ werden diese Schiffe genannt, die größtenteils Intellektuelle ins Ausland transportieren. Nachdem das Schiff einige Tage auf hoher See stillsteht und etwas oder jemand von einem weiteren Schiff an Bord gebracht wird, macht sich das gelangweilte und neugierige Mädchen daran, ihre Umgebung zu erkunden. Dabei stößt sie auf einen alten, kranken Mann, der von sich behauptet, Lenin zu sein. Sie besucht ihn häufiger, unterhält sich mit ihm und es beginnt eine Freundschaft, wie sie es selbst nennt, zwischen den beiden zu keimen.
Auf einer der ersten Seiten behauptet die fiktive Figur Anouk, dass sie Michael Köhlmeier deshalb als Autor für ihre Biographie ausgewählt hat, weil man ihm oft nicht glaubt, wenn er die Wahrheit schreibt, ihm aber Glauben schenkt, wenn er lügt. „Das Philosophenschiff“ treibt genau dort, zwischen Wahrheit und Erfindung und man weiß nie so genau, wo man sich gerade befindet. Das übte für mich eine besondere Faszination beim Lesen aus. Einiges habe ich auf den Wahrheitsgehalt überprüft, aber meistens ließ ich mich einfach von den Erzählungen der alten Dame mit auf ihre Lebensreise nehmen. Sie prägen den Großteil des Buches und somit den Schreibstil, der dadurch etwas gewöhnungsbedürftig sein kann, sich für mich aber gut und flüssig lesen ließ. Die Passagen, in denen der Autor zB Recherchen anstellt, unterscheiden sich im Schreibstil.
Für mich ein außergewöhnliches Buch mit viel Information zu Russland, seinen Politikern und Bürgern Anfang des 20. Jahrhunderts und über eine Frau, die es so geben hätte können. Ich habe es gerne gelesen, zu meinen Lieblingsbüchern zählt es nicht.