Eine gelungene Erzählung

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Anouk Perlemann-Jacob, hundertjährige Stararchitektin, die in St. Petersburg geboren worden ist, engagiert den als Ich-Erzähler auftretenden Schriftsteller, um ihre Biografie zu schreiben.

„Ich habe mich über Sie erkundigt. Sie haben einen guten Ruf als Schriftsteller, aber auch einen etwas windigen. Ich weiß, dass Sie Dinge erfinden und dann behaupten, sie seien wahr. Jeder wisse das, hat man mir gesagt, aber immer wieder gelinge es Ihnen, Ihre Leser und Zuhörer hinters Licht zu führen. Deshalb glaubt man ihnen oft nicht, wenn Sie die Wahrheit schreiben, und glaubt Ihnen, wenn Sie schummeln. Das habe ich mir sagen lassen. Stimmt das?“.

In zahlreichen, täglichen Sitzungen erzählt sie aus ihrem Leben, in dem die Ausweisung aus dem damaligen Sowjetrussland die zentrale Rolle spielt. Dies hat sich so oder so ähnlich tatsächlich zugetragen im Jahr 1922. Nachdem Lenin nichts mehr gefürchtet hat, als denkende Menschen, hat er mehrere Tausend der damaligen Intelligenzija einfach ausweisen lassen, ein anderer Teil ist im Gulag verschwunden oder gleich erschossen worden.

„Die Elemente, die wir ausweisen oder ausweisen werden, sind als solche politisch bedeutungslos. Aber sie sind potenzielle Waffen in den Händen unserer Feinde. Falls es erneut zu militärischen Komplikationen kommt, werden all diese unversöhnlichen und unbelehrbaren Elemente sich als militärisch-politische Agenten des Feindes erweisen. Und wir werden gezwungen sein, sie nach dem Kriegsrecht zu erschießen. Deshalb ziehen wir es vor, sie jetzt in einer ruhigen Phase, beizeiten auszuweisen. Und ich [Trotzki] hoffe, dass Sie bereit sein werden, unsere vorausschauende Humanität anzuerkennen und sie gegenüber der öffentlichen Meinung zu verteidigen.“

Nach welchen Kriterien die Ausweisungen vorgenommen worden sind, bleibt unklar.

„Vor dem Trotzki haben sich alle gefürchtet, noch mehr als vor dem Lenin. Lenin denkt, Trotzki tut. So hat es damals geheißen.“.

Anouk ist gerade einmal 14 Jahre alt, als sie mit ihren Eltern, einer Ornithologin und einem Architekten, das Land verlassen muss und aus ihrer bürgerlichen Umgebung herausgerissen worden ist. Im Gegensatz zu ihren Eltern, die sich im Pariser Exil 1931 das Leben nehmen, kann sie in der westlichen Welt Fuß fassen und lebt in Deutschland un Österreich.

Meine Meinung:

Mein erster Gedanke war, Köhlmeier hat sich Margrete Schütte-Lihotzky (1897-2000) zum Vorbild genommen. Jein, denn die Architektin ist in Wien geboren und hat erst in den 1930er-Jahren in der Sowjetunion gelebt und gearbeitet.

Wir begegnen während in dieser Erzählung zahlreichen realen russischen Persönlichkeiten, die ebenso ausgewiesen worden sind und ebenso zahlreichen, die vom Regime ermordet worden sind. Dass der sterbenskranke Lenin persönlich selbst auf einem dieser Philosophenschiffe war, ist allerdings Fiktion. Sein (Un)Geist ist allerdings deutlich spürbar und präsent.

Die Erzählung ist interessant, ist allerdings ohne Vorkenntnisse der russischen Revolutionsgeschichte nur schwer nachzuvollziehen. Denn Anouk Perlemann-Jacob springt in Raum und Zeit umher. Wie es einfach alte Menschen tun, wenn sie über ihr langes Leben berichten. So wechseln sich scheinbare Nebensächlichkeiten und historisch Belegtes ab.

Der Schreibstil ist sachlich und souverän. So besorgt sich der Ich-Erzähler, weiterführende Literatur, um die Aussagen der alten Frau zu überprüfen. Das macht die Geschichte glaubwürdig, auch wenn sie doch zu einem großen Teil fiktiv ist.

Fazit:

Eine gelungene Erzählung, der ich gerne 4 Sterne gebe.