Faszinierende Protagonistin - Dichtung und Wahrheit

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Besonders der Titel und Klappentext haben mich angezogen, das Cover ziert ein Gemälde mit Dampfer im Hintergrund des deutschen Landschaftsmalers Eugen Bracht und paßt gut dazu.
Zu ihrem 100. Geburtstag lädt die Architektin und Professorin Anouk Perlemann-Jacob einen Schriftsteller ein, der ihre Lebensgeschichte erzählen soll, zumindest will sie das noch erzählt wissen, was in den zwei schon veröffentlichten Biografien noch nicht erzählt wurde.
Sie hat sich einen Schriftsteller ausgesucht, „ dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt“. Und genau dieses Spiel reizt sie. Ihr Leben soll erzählt, ob und was geglaubt wird, ist ihr egal.
Und sie beginnt über viele Tage hinweg ihr Erinnerungen zu erzählen, mit viel Esprit und Humor, manchmal schweift sie ab in andere Zeiträume, manchmal ist sie erschöpft und kann erst am nächsten Tag weitermachen. Und auch sie erzählt manches, wo sie später sagt, dass es gelogen war, denn vieles, was sie in jungen Jahren erlebt hat, wühlt sie immer noch auf. „Ich habe die Wahrheit ein bisschen von mir weg erfinden wollen“.
Es geht vor allem auch um die Fahrt anno 1922 auf einem der Philosophenschiffe, die wirklich so genannt wurden, weil damit kritisch beäugte Intellektuelle ins Exil gebracht wurden. Viele wurden auch erschossen. Aber die vierzehnjährige Anouk und ihre Eltern hatten Glück, auf eines der Schiffe zu kommen, wenn letztlich für viele Erwachsene vor allem diese von Lenin angeordnete erzwungene Flucht aus der Heimat letztlich nicht bewältigt werden konnte.
Nachdem das Schiff fünf Tage und Nächte auf offener See ruhte und die kleine Gemeinde unten in der dritten Klasse beunruhigte, wird noch ein Passagier heimlich an Bord gebracht. Es ist Lenin selbst, nach einigen Schlaganfällen an den Rollstuhl gefesselt . Er ist in der ersten Klasse untergebracht und für sich. Anouk ist neugierig und besucht ihn des nachts. Er ist sich nicht sicher, ob sie real ist oder eine Einbildung, aber die beiden Freunden sich an, weil niemand anders da ist. Und dann hält das Schiff nochmals auf offener See an.

Mir hat die Erzählweise gut gefallen, ich hätte Anouk auch zuhören mögen. Er möchte es wissen, der Autor, denn er verschiebt immer wieder seine Abreise. Und das Thema ist nicht nur ein historischer Zeitraum, die Zeit des Bolschewismus, es ist auch philosophisch. Dichtung und Wahrheit und Freiheit werden auch thematisiert, und das Erinnern und die erlebten und damit verbundenen Emotionen, und all das ist letztlich zeitlos. Michael Köhlmeier hat das wunderbar komponiert!