Vergangenheit, davon zu erzählen

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"Das Philosophenschiff" ist die Geschichte der hundertjährigen Stararchitektin Anouk Perleman-Jacob, die zu den Biografien über sie noch eine wahrhaftige Erzählung hinzufügen möchte, Hierzu beauftragt sie den Schriftsteller Michael Köhlmeier, der dafür bekannt ist, wahren Stoffen Erfundenes so hinzuzufügen, dass Fiktion und Wirklichkeit nicht mehr auseinander zu halten sind. Köhlmeier spielt hierbei nicht nur mit der Autorfiktion, sondern auch mit der Autofiktion, aber auch mit der Technik des Erzählens selbst.

Anouk erzählt vom Hungerwinter in Petersburg, von den Leiden der Bevölkerung in der späten Zarenzeit und nach der Revolution. Sie erzählt insbesondere von der Erfahrung, unter politischem Druck zu stehen und der Heimat entfremdet zu werden. Damals, also sie jung war, wurde sie mit ihren als Intellektuelle verfemten Eltern des Landes verweisen und auf ein Auswandererschiff gebracht. Diese "Philosophenschiffe" voller Intellektueller, die gefährlich für die Revolution erschienen, gab es wirklich. Anouks drittes Schiff dieser Art nicht. Es ist Fiktion im wahren Kontext.

Zwei Hauptfiguren gibt es in diesem Roman: Die Architektin und den Schriftsteller. Dass im hinteren Teil des Romans auf dem Aussiedlungsschiff noch der moribunde Lenin auftaucht, erhebt ihn nicht zum Protagonisten: Er ist der Beweger der politischen Umstürze, in denen sich das Leben der jungen Architektin spiegelt - und derselben politischen Richtung, mit der auch der Autor Köhlmeier sich in seiner Studentenheim befasste und spiegelte. Die Gespräch mit Lenin an Bord des Philosophenschiffes sind auch reinigende Augenblicke im Angesicht des kommunistischen Terrors und des Umgangs mit der eigenen, politischen, womöglich gewalttätigen Vergangenheit.

Dennoch fällt der Roman wegen des politischen Diskurses im letzten Fünftel ab. Bis dahin entwickelt die Lebenserzählung Anouks einen so unwiderstehlichen Zauber, dass man von Seite zu Seite springt und besser als in jedem Geschichtsbuch zu verstehen meint, was Hungerwinter in Petersburg bedeutet haben mag. Ein wunderbarer Roman über Vertreibung und Gewalt, Lebenslügen und die Wirkung politischen Terrors - atmosphärisch gekonnt erzählt.