Vexierbild der Geschichte

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pawlodar Avatar

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Wer mit dem Werk von Michael Köhlmeier vertraut ist, kennt seine Tendenz, Ereignisse und Figuren der Geschichte zu dekonstruieren, neu zu montieren - zur grenzenlosen Freude seines geneigten Lesepublikums.

In seinem neuesten Roman richtet er seinen Blick auf ein Detail der Geschichte der Sowjetunion, der Deportation missliebiger Intellektueller, die womöglich den Erfolg der Revolution in Frage stellen könnten.

Die Ereignisse im Sankt Petersburg des frühen 20. Jahrhunderts und auf dem Philosophenschiff vermittelt Köhlmeier aus dem Erlebenshorizont eines jungen Mädchens - doch verbalisiert aus der Erinnerung einer Hundertjährigen - eine Brechung, die die Bewertung durch den Leser in Frage stellt. In die gleiche Kerbe haut Köhlmeiers Kniff, einen durch seine Unglaubwürdigkeit, seine Unzuverlässigkeit charakterisierten Schriftsteller zum Sprachrohr zu machen.

Schnell wird deutlich, dass die Situation auf dem Schiff als Laborbericht, als Versuchsanordnung, als Experiment zu lesen ist. Wie agieren Individuen, wenn es keine Aussicht auf eine Rückkehr in die vertrauten Verhältnisse gibt, die Zukunft jedoch eine umfassende Leerstelle darstellt?

Köhlmeier dreht diese Schraube noch eine Windung weiter, wenn er es zu einer völlig unglaubwürdigen, fiktiven Begegnung zwischen der vierzehnjährigen Anouk und dem gänzlich verfallenen Vorreiter der Revolution, Lenin, auf diesem Schiff kommen lässt. Gleichfalls Passagier auf dem Weg in die Deportation, erscheint Lenin als obsolet, entbehrlich, als Relikt der Geschichte. Die vollkommene Relativierung aller Verhältnisse tritt ein, wenn das Opfer und der Verursacher der historischen Entwicklung sich als Freunde empfinden.

Überdeutlich wird Köhlmeiers Perspektive auf die Geschichte in der skurrilen, überdrehten Szene am Schluss des Romans, wenn die endgültige Entsorgung des überlebten Revolutionärs dem Spiel des Zufalls überlassen wird. In perfider Weise werden die Bedingungen geschaffen, die sein Verschwinden ‚wie von selbst‘ ermöglichen.

Selten war ein Roman von Michael Köhlmeier von so viel Pessimismus, Distanz, Relativierung geprägt.