Das Kind, das aus der Kälte kam

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theresia626 Avatar

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Mit ihrem Roman „Das Schneemädchen“ entführt die Schriftstellerin Eowyn Ivey den Leser nach Alaska an den Wolverine River zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mabel und Jack, ein älteres Ehepaar, wünschten sich nichts sehnlicher als ein Kind, das sie aber nicht haben können. Vor zehn Jahren brachte Mabel ihr einziges Kind tot zur Welt, der Traum von einer großen, kinderreichen und glücklichen Familie ist zerplatzt. Die Ehe bleibt kinderlos, die Eheleute leben sich auseinander. Um ihren Verlust und Schmerz zu verarbeiten, ziehen beide 1918 aus der zivilisierten Welt von Pennsylvania in die Wildnis Alaskas. Die Bundesregierung hatte Farmer gesucht, die sich entlang der Bahnstrecke ansiedelten. Jetzt lebten sie in einer einsam gelegenen, selbst gebauten Blockhütte, und führten dort ein sehr einfaches und schweres Leben als Farmer. Die Natur ist rau, die Winter sind unerbittlich kalt. Von Dezember an geht die Sonne mittags auf und geht wenige Stunden später schon wieder unter. Für Mabel ist es eine unerträglich schwere Zeit. Sie zweifelt an ihrer Entscheidung, wird melancholisch, hegt Selbstmordgedanken. Ihr Traum, Seite an Seite mit ihrem Ehemann auf grünen Feldern zu arbeiten, endete auf einem Fleckchen Erde voller Baumstümpfe. Mabel, die aus einer gut situierten Familie stammt - ihr Vater ist Literaturprofessor - hatte ein besseres Leben verdient. Eine Zeit lang verkaufte sie frisch gebackenen Kuchen an eine Hotelgaststätte in der sehr weit entfernten Kleinstadt Alpine, doch auch diese Einnahmequelle versiegte überraschend. Die Angst den Winter nicht zu überstehen ist groß, und Jack überlegt, im nahegelegenen Bergwerk arbeiten zu gehen. Hilfe bekommen beide von ihren lebensfrohen Nachbarn George und Esther Benson sowie von deren Sohn Garrett.

Als der erste Schnee fällt, formen Jack und Mabel aus Schnee ein Schneemädchen, geben ihm Fäustlinge, einen Schal und Haare aus vergilbtem Wildgras. In dieser Nacht kommen sie sich auch seit langer Zeit wieder näher. Am Morgen danach ist das Schneemädchen verschwunden, eine Spur kleiner Schritte führt in die Wildnis. Dieses Ereignis verändert komplett ihr Leben, denn ein feenhaftes kleines Mädchen tritt in ihr Leben, dessen Maskottchen ein roter Fuchs ist. „Es war fantastisch und unmöglich, aber Mabel wußte, es war wahr – sie und Jack hatten ein Mädchen geschaffen. (..) Das Kind war nicht nur ihre Schöpfung, es war ein Wunder.“ (S. 110) Anfangs verschwindet es immer wieder in der Wildnis und trotz der kalten Temperaturen. Mabel erinnert sich an das alte russische Märchen „Snegurotschka“, das sie in ihrer Jugendzeit gelesen hat und läßt sich von ihrer Schwester Ana das Buch schicken. Darin formte auch ein altes Ehepaar ein kleines Mädchen aus Schnee, jedoch nimmt das Märchen ein unglückliches Ende. Faina hingegen erwärmt ihre Herzen und wird Teil ihrer Familie. Viele Jahre gehen ins Land. Immer, wenn der letzte Schnee schmilzt, verlässt sie Faina und kommt im nächsten Winter zurück. Sie war kein gewöhnliches Wesen. „Sie war Himmel und Eis, weite Bergketten und endlose Wildnis.“ (S. 282) Sie verändert jedoch nicht nur die Eheleute, die wieder glücklich und zufrieden miteinander leben, auch der Nachbarsjunge Garrett verändert sich.

Eowyn Ivey ist mit ihrem Roman „Das Schneemädchen“ eine fantasievolle Nacherzählung dieses alten russischen Märchens gelungen. Das Buch lebt von großen Gefühlen und beeindruckenden Landschaftsbeschreibungen dieser rauen und wunderschönen Gegend, und es versetzt den Leser gekonnt in die damalige Zeit. Allerdings ist der Roman wegen der deutlichen Längen nicht mühelos zu lesen und setzt viel Geduld voraus. Entschädigt uns allerdings durch den perfekt durchgehaltenen Schwebezustand zwischen Mythos und Naturalismus, zwischen Fantasie und Wirklichkeit.