Das Schneemädchen

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Jack und Mabel sind in die Einsamkeit Alaskas aufgebrochen, um ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Ein Leben, das begleitet war von Trauer über den Verlust eines neugeborenen Kindes und bestimmt von den Blicken der Nachbarn, der Freunde, der Familie, aus denen sich vor allem Mitleid lesen ließ. In der Ferne und Stille des fremden Landes hoffen Jack und Mabel auf einen Neubeginn und auf das Vergessen.

Doch das Leben in diesem rauen Land ist nicht einfach und schnell von Eintönigkeit bestimmt. Jack kümmert sich um das Holzhacken und das Jagen, Mabel sorgt für ein warmes Heim und Essen auf dem Tisch. Schnell legt sich der Alltag über das einst so glückliche Paar, das immer noch voller Liebe zueinander ist, aber verlernt hat, diese zum Ausdruck zu bringen.

Schon seit Tagen liegt Schnee in der Luft, der von den Bewohnern Alaskas sehnsüchtig erwartet wird. Und tatsächlich: Eines Abends rieseln leise die ersten Flocken. Schnell wächst ein Schauer heran, der Flocke um Flocke auf die Erde segeln lässt. Und bald ist alles in weißes Pulver gehüllt. Entzückt beobachtet Mabel das bunte Flockentreiben, schlüpft in ihren Mantel und zieht ihre wärmsten Stiefel an. Sie verlässt das Haus und wartet in der Kälte auf ihren Mann. Als sie ihn erblickt, formt sie mit ihren Händen einen Schneeball und wirft diesen vorwitzig nach Jack. Fast schämt sie sich und würde den Wurf am liebsten ungeschehen machen. Auch Jack ist im ersten Moment wie erstarrt. So etwas hätte er von seiner ruhigen und genügsamen Mabel nicht erwartet. Doch die Überraschung ist schnell überwunden und Jack und Mabel starten eine Schneeballschlacht. Und diese wirkt Wunder: Endlich haben die beiden wieder Spaß zusammen, lachen gemeinsam, verbringen Zeit miteinander. Und aus einer Laune heraus bauen sie eine Schneefigur. Ein Mädchen, mit einem Schal um den Hals und einem freundlichen Gesicht.

Am nächsten Morgen hat sich der Sturm beruhigt. Und die Schneefigur ist verschwunden. Zurück geblieben ist nur ein kleines Häuflein Schnee. Doch zwischen den Bäumen erkennt Jack ein kleines Mädchen. Es hat den Schal umgebunden, den vorher das Schneemädchen trug. Immer wieder taucht es auf, meist in Begleitung eines Fuchses. Wer ist das Mädchen? Wo kommt es so plötzlich her? Wo sind seine Eltern?

Das Leben von Jack und Mabel gerät völlig aus dem Tritt, denn von nun an dreht es sich nur noch um das kleine Mädchen. Und Mabel erinnert sich an ein Märchenbuch, das sie in ihrer Kindheit geliebt hat. Darin ging es um ein Mädchen, das ganz aus Schnee besteht. Aber das ist schließlich nur eine Geschichte. Oder nicht? Das Schneemädchen verbringt den Winter bei Jack und Mabel, doch sobald es wärmer wird und der Schnee zu schmelzen beginnt, verlässt sie das Ehepaar, um in die Berge zu ziehen. Dorthin, wo es kälter ist.

Das gemeinsame Leben von Jack, Mabel und später auch Faina - dem Schneemädchen - wird von Eowyn Ivey sehr anschaulich und lebendig erzählt. Als Leser fühlt man sich sofort in die Weite und Kälte Alaskas versetzt. Die Landschaft mit seinem reißenden Fluss und der Vielzahl an Tieren breitet sich vor dem geistigen Auge des Lesers aus. Die Autorin hat einen geschulten Blick für Details und lässt ihre Leser an der Atmosphäre der atemberaubenden Wildnis teilhaben. Sie fängt die Stimmung ihrer Charaktere und der Umgebung ein und gibt sie durch ihre detaillierten Beschreibungen an die Leser weiter. Besonders gut gelungen ist ihr dabei, die Stimmungswechsel zu beschreiben. Am Anfang liegt eine sehr deprimierte und melancholische Stimmung über dem Buch, die mit dem ersten Schneefall und vor allem dem Auftauchen von Faina lebendig und insbesondere fröhlich und hoffnungsvoll wird. Auch die Bewohner einer benachbarten Farm, mit denen sich Jack und Mabel im Verlauf des Buches anfreunden, bringen Leben und Schwung in die kleine Holzhütte.

Doch die ganze Zeit liegt etwas in der Luft. Etwas, was man nicht so richtig greifen kann. Etwas Märchenhaftes, etwas Zauberhaftes. Und ständig droht die Stimmung umzuschlagen. Es gibt einige Rückschläge zu verkraften und neuen Mut zu beweisen. "Das Schneemädchen" ist nicht nur ein sehr bewegter, sondern auch ein sehr bewegender Roman. Es trifft mitten ins Herz und überzeugt durch seine Lebendigkeit, seine liebevoll gezeichneten Charaktere und seine Detailfülle. Trotz seines Umfangs und der Eintönigkeit der Wildnis Alaskas ist das Buch stets abwechslungsreich und auf eine sehr subtile Art spannend. Es lässt den Leser nicht mehr los.

Das ganze Buch hindurch erfährt man nicht, ob das Schneemädchen nun real ist oder nicht. Zwar wird im Laufe des Buches klar, dass nicht nur Jack und Mabel das Schneemädchen sehen können, sondern auch die anderen Charaktere. Aber der Leser wird völlig im Unklaren darüber gelassen, ob Faina ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, oder ob sie eben doch ein mystisches Wesen ist, das direkt dem russischen Märchen über das Schneemädchen entsprungen ist. Es gibt immer wieder Andeutungen, aus denen sich ableiten ließe, dass das Schneemädchen aus der Figur entstanden ist, die Jack und Mabel an dem Abend gebaut haben, als sie sich noch einmal so jung fühlten. Denn wieso fängt sie an zu schwitzen, sobald sie sich in der beheizten Hütte aufhält? Und wieso scheint es immer stärker zu schneien, sobald Faina in der Nähe ist? Aber dann gibt es wieder Szenen, in denen Faina so überaus menschlich erscheint. In denen sie so natürlich und lebhaft wie ein kleines Kind oder eine junge Frau auftritt. Durch das gesamte Buch zieht sich so eine ungewisse und traumhafte Stimmung, die den Leser völlig in ihren Bann nimmt.

Und am Ende? Am Ende wird es Schnee geben!

Mein Fazit:

"Das Schneemädchen" ist ein Roman von der ganz besonderen Sorte: stimmungsvoll, bezaubernd, einzigartig!