„Der Schein trügt, …

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… aber ganz besonders trügt der erste Anschein.“ Ja. ich beginne meine Rezension mit einem Zitat, einem Satz, den die Hauptperson dieses Kriminalromans seinen Zuhörern ans Herz legt. Kommissar Arno Groth ermittelt nämlich nicht nur in Kriminalfällen, er schult auch seine Polizeikollegen, die dem „Wessi“ Anfang der 1990er Jahre im neu entstandenen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern ebenso skeptisch gegenüberstehen, wie die Kollegen des Kommissariats in Wechtershagen. Dorthin, in die imaginäre Stadt im Osten, hat es den Hamburger nämlich verschlagen, und ganz zufällig ist das auch noch seine Heimatstadt, die er vor Jahren gen Westen verlassen hat. Kurz nach der Wende ist nichts mehr wie es war in Wechtershagen und auch wie es einmal sein soll, ist es noch nicht. Diese Stadt ist ebenso sehr im Umbruch, wie die ganze ehemalige DDR. Ressentiments sind überall, sind normal und doch aus heutiger Sicht auch recht böse.
Ich habe dieses Buch ganz zufällig empfohlen bekommen; dass ich es mit solcher Freude und Geschwindigkeit verschlingen würde, war mir beim ersten Anschauen von Klappentext und Leseprobe aber noch nicht klar. Das Cover hätte mich übrigens nicht zum Kaufen animiert, auch wenn es Bezug auf den Titel nimmt, ist es mir zu rot und zu blau. Der sehr feinfühlige und feinsinnige Text des Romans hätte ein anderes Outfit verdient. Im Gegensatz zu dieser Kritik bin ich aber mit der Genreangabe Kriminalroman sehr im Einklang. Neue und alte Kriminalfälle, deren Aufklärungsversuche und der Blick in die Kriminalistenwelt vor und nach der Wende sind geschickt verknüpft mit der Geschichte der in diese Fälle verwickelten Personen.
Zweite Hauptperson ist nämlich die Schwester von Jutta Timm, die elf Jahre zuvor Mordopfer wurde. Ein Mord, der nicht aufgeklärt wurde und der Regine Schadow, geborene Timm, nicht aus dem Kopf geht. Als jüngere Schwester war sie immer die „Schwester der Ermordeten“, ihre eigene Entwicklung holprig und nicht immer befriedigend. Obwohl sie sich in Berlin einen guten Stand als Kellnerin erarbeitet hat im noblen Hotel Kempinski, war sie plötzlich nach Wechtershagen zurückgekommen und arbeitet nun in einem Strandrestaurant am See. Dort hat sie Kontakt zu einem Bootsverleiher, der des Mordes an ihrer Schwester verdächtig war, aber freigesprochen wurde. Sie ist auf der Suche nach der Wahrheit, dieses Verlangen teilt sie mir Kommissar Arno Groth. Was sich in diesem eindringlichen Roman wie entwickelt, beschreibe ich nicht, es ist vielleicht nicht gerade ein spannender Thriller, aber mir hat die interessante Beschreibung der Befindlichkeiten, Örtlichkeiten und Protagonisten sehr gefallen. Nicht nur Krimi sondern auch Roman, für mich ein Lesestoff vom Feinsten.
Was mich sehr erstaunt hat, war die authentische Schreibweise der Autorin Susanne Tägder, die ja die DDR nur vom Hörensagen kennt. In Heidelberg 1968 geboren, aber Kind von ehemaligen DDR-Bürgern, die aus Neubrandenburg, dem literarischen Vorbild für Wechtershagen, stammten. Manch Leser mag der Meinung sein, Neubrandenburg ist ein etwas größeres Dorf, aber tatsächlich hatte die Stadt zur Wende 90.000 Einwohner, heute sind es nur noch max. 64.000. Das entspricht dem lakonischen Ostspruch „Mit Schwund ist zu rechnen.“ Eigentlich schade, dass im Buch der Ort umbenannt wurde, denn jeder, der Neubrandenburg kennt, erkennt es auf Anhieb. Aber vielleicht sollten die Menschen, die sich in den Protagonisten im Buch befinden, nicht wiedererkannt werden. Wobei ich glaube, dass das heute nicht mehr die große Rolle spielt, die Hintergrundgeschichten sind längst veröffentlicht und bekannt bzw. in den Archiven nachzulesen, wie es auch die Autorin gemacht hat.
Jetzt lebt die Autorin in der Schweiz und in Kalifornien. Wenn man das erfährt, staunt man über das Wissen um die Feinheiten der DDR-Geschichte, die sie dezent in ihren Krimi einbaut. Rückblicke auf die Staatssicherheit und ihre Methoden, aber auch der Blick auf die Personen, die sich im neuen Deutschland versuchen, mit reiner Wester wieder in die vordersten Reihen zu begeben.
Die Charakteristiken der Protagonisten lesen sich wie echte Lebensgeschichten, als Beispiel nenne ich Groths Kollegen Gerstacker, den es „kalt erwischt“ in jenen Tagen nach der Wende. Aber auch Menschen wie Regines Oma oder der Vater vom Bootsverleiher, oder Ludi, der alte treue Freund von Regine, oder die Lehrerin, zu der Groth eine vorsichtige Beziehung aufbaut. Alles liest sich lebensecht, auch wenn bisweilen die Logik ein wenig holpert.
Nur einmal wunderte mich die Wortwahl, ich bin aus Ostberlin, aber das Wort Schieber für einen Aufbewahrungsort von Dokumenten zu verwenden, das würde mir nicht in den Sinn kommen. Vielleicht ist ein Schuber gemeint oder ein Schubkasten?
Das Ende des Romans birgt etwas, was wir dringend brauchen, damals wie heute: Hoffnung.
Fazit: ich empfehle diesen Nachwende-Kriminalroman, vermute aber, dass Lesern, die keine „DDR-Erfahrung“ haben, manche Details und Finessen dieses wunderbaren Buches entgehen könnten.