Ein Panorama der Versehrten
Wechtershagen, Mecklenburg, im Herbst 1991: Hauptkommissar Arno Groth kehrt aus Hamburg in seine Heimatstadt zurück. Er soll dort eine Art "Aufbau Ost" betreiben und die ehemaligen DDR-Polizist:innen in westdeutscher Polizeiarbeit schulen. Während seiner Zeit im Büro fällt ihm ein Mann auf, der sich auf dem Parkplatz der Polizei herumtreibt. Hilfesuchend wendet sich dieser kurz darauf an ihn und stellt sich als Bootsverleiher Siegmar Eck vor. Er fühle sich verfolgt und ein Boot sei ihm gestohlen worden. Die Beweise dafür werde er Groth noch liefern. Drei Tage später fischt die Polizei einen Toten aus dem Wechtsee. Sein Name: Siegmar Eck...
"Das Schweigen des Wassers" ist der Debütroman der gebürtigen Heidelbergerin Susanne Tägder, der jetzt bei Tropen erschienen ist. Es ist ein bemerkenswert souverän erzähltes Debüt, das vor allem durch seine starken Figuren, die melancholische Atmosphäre und die pointierten Dialoge glänzt. Doch auch auf der Handlungsebene weiß "Das Schweigen des Wassers" zu überzeugen. Denn der ertrunkene Eck ist nur der Pfeiler eines elf Jahre zurückliegenden Verbrechens. 1980 wurde im Tannenkruger Forst nämlich die Leiche der 19-jährigen Jutta Timm gefunden. Der Mord blieb unaufgeklärt, obwohl Eck seinerzeit bereits ein Geständnis abgelegt hatte, vor Gericht aber freigesprochen wurde.
Das größte Plus sind aber die Figuren. Neben Protagonist Groth gibt es eine ganze Reihe an Charakteren, die den Leser:innen lange im Gedächtnis bleiben werden. Da ist beispielsweise Gerstacker, Groths nächster Kollege, der alles ganz genau nimmt und sich von niemandem reinreden lässt. Schon gar nicht von jemandem, der aus Westdeutschland kommt. Da ist Hennemann, Fotograf und Reporter der lokalen Zeitung, der zum Fall der ermordeten Jutta Timm eine ganz besondere Verbindung hat. Da ist Regine Schadow, Kellnerin eines zweitklassigen Lokals am See, die mehr über Eck weiß, als es anfangs scheint. Und da ist Ecks Vater, ein nach außen hin stoisch wirkender Hinterbliebener. Sie alle haben ihre Verletzungen erlitten und gemeinsam bilden sie so etwas wie ein Panorama der Versehrten. Tägder nähert sich diesen Verwundeten mit großer Empathie und Mitgefühl, nie verrät sie sie, welche Fehler sie auch begehen mögen. Hervorstechend ist aber tatsächlich Arno Groth. Der Kafka lesende Kommissar musste einige Schicksalsschläge verkraften. Er trauert noch immer um seine Tochter Saskia und auch beruflich hat er Hamburg nicht ohne Grund verlassen. Tägder widmet ihren Roman allen, "die ein rauer Wind aus ihrer Heimat fortgeweht hat" und bezeichnenderweise trifft dies auch auf Groth und viele ihrer Figuren zu. Groth ist ein herausragendes Beispiel an Menschlichkeit, ein Ermittler, der trotz seiner Probleme nie so verkorkst wirkt wie seine literarischen Kolleg:innen aus Schweden. Als eine Art einsamer Wolf hat er zunächst nicht nur mit den Verdrießlichkeiten alter Aktenarbeit zu tun, sondern auch mit der Missstimmung gegenüber eines aus dem Westen Zugezogenen. Gemeinsam mit Gerstacker bildet er mit zunehmender Dauer ein kongeniales Duo aus Herz und Verstand.
Atmosphärisch erinnert "Das Schweigen des Wassers" in seiner Melancholie ein wenig an die Fälle von Friedrich Anis Ermittler Jakob Franck, die bedauerlicherweise seit 2017 auf eine Fortführung warten. In den Dialogen agiert Tägder aber ohne die Francksche Tristesse, sondern lockert den in seiner Gesamtheit eher düsteren Grundton immer wieder pointiert und feinsinnig auf. Beispielsweise, wenn Groth sich in einer Dorfkneipe auf die Suche nach einem ehemaligen Bandkollegen von Siegmar Eck begibt. Oder wenn Regine Schadow, die die zweite Hauptfigur in diesem Kriminalroman ist, ihre Oma im Pflegeheim besucht.
Toll sind auch die plastischen Beschreibungen der fiktiven Stadt Wechtershagen, deren geographisches Vorbild Neubrandenburg ist, Herkunftsort von Susanne Tägders Eltern. So erfahren wir es in der Danksagung ganz am Ende des Buches. In dieser schildert die Autorin auch, woher die Idee des Krimis stammte. Die Geschichte basiert nämlich auf einem wahren Fall, den die Journalistin Renate Meinhof 2002 in der Reportage "Das eisige Echo des Verdachts" für die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte. Ich empfehle eindringlich die Lektüre dieser Reportage, die sich einfach und kostenfrei im Archiv des Reporter-Forums finden lässt. Allerdings erst nach der Lektüre von "Das Schweigen des Wassers", denn es wäre schade, sich die bis zum Ende bestehende Spannung möglicherweise dadurch zu verderben, wenn man schon zu viel weiß.
Im Klappentext meint Schrifstellerkollege Andreas Pflüger über Susanne Tägder: "Diese Autorin ist gekommen, um zu bleiben." Wünschenswert wäre es auch, wenn man sagen könnte "Dieser Kommissar ist gekommen, um zu bleiben", denn man fühlt sich dem Protagonisten am Ende so verbunden, dass man ihn schwer wieder loslassen möchte. Mit "Das Schweigen des Wassers" gelingt Susanne Tägder jedenfalls ein bemerkenswert großer Schritt in Richtung des bislang rein männlichen Triumvirats der höchsten Klasse der deutschen Kriminalliteratur, bestehend aus Friedrich Ani, Matthias Wittekindt und Jan Costin Wagner.
"Das Schweigen des Wassers" ist der Debütroman der gebürtigen Heidelbergerin Susanne Tägder, der jetzt bei Tropen erschienen ist. Es ist ein bemerkenswert souverän erzähltes Debüt, das vor allem durch seine starken Figuren, die melancholische Atmosphäre und die pointierten Dialoge glänzt. Doch auch auf der Handlungsebene weiß "Das Schweigen des Wassers" zu überzeugen. Denn der ertrunkene Eck ist nur der Pfeiler eines elf Jahre zurückliegenden Verbrechens. 1980 wurde im Tannenkruger Forst nämlich die Leiche der 19-jährigen Jutta Timm gefunden. Der Mord blieb unaufgeklärt, obwohl Eck seinerzeit bereits ein Geständnis abgelegt hatte, vor Gericht aber freigesprochen wurde.
Das größte Plus sind aber die Figuren. Neben Protagonist Groth gibt es eine ganze Reihe an Charakteren, die den Leser:innen lange im Gedächtnis bleiben werden. Da ist beispielsweise Gerstacker, Groths nächster Kollege, der alles ganz genau nimmt und sich von niemandem reinreden lässt. Schon gar nicht von jemandem, der aus Westdeutschland kommt. Da ist Hennemann, Fotograf und Reporter der lokalen Zeitung, der zum Fall der ermordeten Jutta Timm eine ganz besondere Verbindung hat. Da ist Regine Schadow, Kellnerin eines zweitklassigen Lokals am See, die mehr über Eck weiß, als es anfangs scheint. Und da ist Ecks Vater, ein nach außen hin stoisch wirkender Hinterbliebener. Sie alle haben ihre Verletzungen erlitten und gemeinsam bilden sie so etwas wie ein Panorama der Versehrten. Tägder nähert sich diesen Verwundeten mit großer Empathie und Mitgefühl, nie verrät sie sie, welche Fehler sie auch begehen mögen. Hervorstechend ist aber tatsächlich Arno Groth. Der Kafka lesende Kommissar musste einige Schicksalsschläge verkraften. Er trauert noch immer um seine Tochter Saskia und auch beruflich hat er Hamburg nicht ohne Grund verlassen. Tägder widmet ihren Roman allen, "die ein rauer Wind aus ihrer Heimat fortgeweht hat" und bezeichnenderweise trifft dies auch auf Groth und viele ihrer Figuren zu. Groth ist ein herausragendes Beispiel an Menschlichkeit, ein Ermittler, der trotz seiner Probleme nie so verkorkst wirkt wie seine literarischen Kolleg:innen aus Schweden. Als eine Art einsamer Wolf hat er zunächst nicht nur mit den Verdrießlichkeiten alter Aktenarbeit zu tun, sondern auch mit der Missstimmung gegenüber eines aus dem Westen Zugezogenen. Gemeinsam mit Gerstacker bildet er mit zunehmender Dauer ein kongeniales Duo aus Herz und Verstand.
Atmosphärisch erinnert "Das Schweigen des Wassers" in seiner Melancholie ein wenig an die Fälle von Friedrich Anis Ermittler Jakob Franck, die bedauerlicherweise seit 2017 auf eine Fortführung warten. In den Dialogen agiert Tägder aber ohne die Francksche Tristesse, sondern lockert den in seiner Gesamtheit eher düsteren Grundton immer wieder pointiert und feinsinnig auf. Beispielsweise, wenn Groth sich in einer Dorfkneipe auf die Suche nach einem ehemaligen Bandkollegen von Siegmar Eck begibt. Oder wenn Regine Schadow, die die zweite Hauptfigur in diesem Kriminalroman ist, ihre Oma im Pflegeheim besucht.
Toll sind auch die plastischen Beschreibungen der fiktiven Stadt Wechtershagen, deren geographisches Vorbild Neubrandenburg ist, Herkunftsort von Susanne Tägders Eltern. So erfahren wir es in der Danksagung ganz am Ende des Buches. In dieser schildert die Autorin auch, woher die Idee des Krimis stammte. Die Geschichte basiert nämlich auf einem wahren Fall, den die Journalistin Renate Meinhof 2002 in der Reportage "Das eisige Echo des Verdachts" für die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte. Ich empfehle eindringlich die Lektüre dieser Reportage, die sich einfach und kostenfrei im Archiv des Reporter-Forums finden lässt. Allerdings erst nach der Lektüre von "Das Schweigen des Wassers", denn es wäre schade, sich die bis zum Ende bestehende Spannung möglicherweise dadurch zu verderben, wenn man schon zu viel weiß.
Im Klappentext meint Schrifstellerkollege Andreas Pflüger über Susanne Tägder: "Diese Autorin ist gekommen, um zu bleiben." Wünschenswert wäre es auch, wenn man sagen könnte "Dieser Kommissar ist gekommen, um zu bleiben", denn man fühlt sich dem Protagonisten am Ende so verbunden, dass man ihn schwer wieder loslassen möchte. Mit "Das Schweigen des Wassers" gelingt Susanne Tägder jedenfalls ein bemerkenswert großer Schritt in Richtung des bislang rein männlichen Triumvirats der höchsten Klasse der deutschen Kriminalliteratur, bestehend aus Friedrich Ani, Matthias Wittekindt und Jan Costin Wagner.