Liebe, Freundschaft und der Traum von einer besseren Welt

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marionhh Avatar

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Altes Land, 1882: Ava de Buur lebt bei ihren Stiefeltern auf deren Torf-Bauernhof in bitterer Armut. Als der Stiefvater keinen Ausweg mehr sieht, schließt er sich der allgemeinen Ausreisewelle an und begibt sich mit der Familie nach Hamburg, um eine Schiffspassage in die neue Welt zu bekommen. Während sie auf die Ausreise warten, bricht die Cholera aus… Neunzehn Jahre später ist Ava noch immer in Hamburg und spart eisern für ihren Traum vom Auswandern. Sie arbeitet in der Auswandererstadt von Albert Ballin und trifft dort auf die reiche, verwöhnte, spitzzüngige und eigenwillige Claire Conrad, die dort einen Sozialdienst ableisten soll und die sich mit Händen und Füßen gegen die Zwänge der Gesellschaft und die Entscheidungen ihrer Mutter wehrt. Die beiden sehr ungleichen Frauen freunden sich wider alle Umstände miteinander an. Dann spitzt sich Claires Situation immer mehr zu, und in ihrer Not sieht sie keinen anderen Ausweg, als ihre einzige Freundin Ava zu hintergehen….

Dramatisch, aufregend, spannend, romantisch – dieser Roman packt einen und lässt einen nicht mehr los, bis man auf der letzten Seite angekommen ist und darüber hinaus. Die Autorin von Elbleuchten und Elbstürme beweist einmal mehr, dass ihr hanseatische Familiensagas, hamburgische Geschichte und eigenwillige Charaktere ausgesprochen gut liegen. Ihr extrem flüssiger, ausgezeichnet zu lesender Schreibstil und ihre detaillierten Beschreibungen der guten Gesellschaft und ihrer Attitüden einerseits, die bittere Not, das Elend der Arbeiterschicht und der Dreck des Gängeviertels andererseits lassen einen eintauchen in diese Welt und über alle Maßen mitfühlen mit ihren Protagonisten. Ihre Figuren haben Persönlichkeit, sind lebendig und authentisch und in all ihren Schwächen und Ängsten zutiefst menschlich.

Das Buch kommt mit schönem Einband und ein paar Goodies wie eine kleine Karte am Anfang und Fotos am Ende einher. Es ist sehr gut strukturiert in vier Teile sowie Einschüben aus der Vergangenheit und eingerahmt in einen Prolog und einen Epilog. Die Zeitspanne umfasst damit fast dreißig Jahre. Die Geschichten um Ava und Claire werden zunächst getrennt voneinander erzählt, was ganz natürlich ist, denn das Leben der beiden könnte unterschiedlicher nicht sein. Demensprechend erfolgt auch immer ein Wechsel der Perspektive – erst später wechseln die Perspektiven auch innerhalb der Kapitel und werden immer häufiger, je mehr sich die zwei Frauen miteinander und mit ihren männlichen Gegenparts Quint und Will verstricken. Dadurch nimmt das Ganze immer mehr Fahrt auf und sukzessive bekommen die männlichen Hauptfiguren mehr eigene Anteile. Der Leser erhält somit mehr und mehr unterschiedliche Sichtweisen in die jeweilige Gefühlswelt und auf die Ereignisse. Die Einschübe aus der Vergangenheit werden von einem – vermeintlich - unbekannten Ich-Erzähler übernommen, der sehr anschaulich seine dramatischen Erlebnisse einer Atlantik-Überquerung schildert. Diese Passagen sind sehr eindringlich und gehen unter die Haut. Hier tritt besonders gut das außergewöhnliche Gespür und Erzähltalent der Autorin zutage, elendige Zustände anschaulich darzustellen, ohne jedoch die Stärke und Hoffnung der Protagonisten aus den Augen zu verlieren.

Die Fäden laufen in der Ballin-Stadt zusammen, wo die Auswanderer Zwischenstation machen, bevor sie auf große Fahrt nach Übersee gehen. Hier treffen alle vier, Ava, Claire, Quint und Will, einigermaßen überraschend aufeinander, und je mehr sie interagieren, desto mehr steigt die Spannung. So verschieden die Persönlichkeiten Avas und Claires sind, so unterschiedlich sind die Erzählweisen, ihre Handlungen und ihre Sicht auf die Dinge. Ist Ava introvertiert, duldsam, bescheiden, sensibel, beobachtend, so ist Claire auf der anderen Seite egozentrisch, temperamentvoll, selbstbewusst und fordernd. Beiden ist jedoch nicht nur ihre Intelligenz gemein, sondern auch das Hinterfragen des Ist-Zustandes, der Wunsch nach dem Ausbrechen aus der Norm, nach einem besseren Leben, auch wenn jede zunächst etwas anderes darunter versteht. Ava, schwer traumatisiert durch Schicksalsschläge, steht ganz allein da, und auch Claire, gefangen im goldenen Käfig, hat keinerlei Rückendeckung durch ihre Mutter. Beide sind auf ihre Art Außenseiterinnen der Gesellschaft. Im Laufe ihrer Annäherung machen beide eine Veränderung durch und nehmen Eigenschaften der anderen an, so wird zum Beispiel Ava selbstbewusster und fordernder und Claire demütiger. Für mich war Claire ein sehr zwiespältiger Charakter und nicht immer waren ihre Handlungen für mich nachvollziehbar, sie handelt meist sehr impulsiv, und es war mir schleierhaft, wie man phasenwiese so ignorant sein kann. Ihre Wut und ihr Entsetzen und nach und nach auch ihre Sensibilität und ihr Wortwitz kommen aber sehr gut rüber und nehmen sie für einen ein. Natürlich kommen auch die Irrungen der Liebe nicht zu kurz, aber auch hier wieder weder kitschig noch vorhersehbar, sondern im Gegenteil eher unwahrscheinlich auf ein Happy End, so dass es spannend bleibt. Die männlichen Protagonisten sind ebenfalls starke Charaktere und stehen Ava und Claire in nichts nach, wie überhaupt alle Figuren detailliert und lebensecht gezeichnet sind.

Fazit: Großartiger erster Band um die Auswandererstadt des Albert Ballin in Hamburg und vier Menschen, deren Schicksal untrennbar miteinander verknüpft ist. Dieses Buch vereint alle Elemente, die eine spannende Saga braucht – abwechslungsreiche Handlung, Liebe, Freundschaft, Verrat, Missverständnisse, geplatzte Träume und ein altes Geheimnis, aufs Trefflichste verwoben und vortrefflich erzählt. Fesselnder und sehr gelungener Einstieg in die neue zweibändige Reihe, die Lust auf Mehr macht!