Der Alte Mann und seine Vision

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sissidack Avatar

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James McBride ist hochdekoriert und ohne Zweifel ein weltberühmter Autor. Die kurze Darstellung seiner Erfolge und Ehrungen beeindruckt zweifellos. Fakt ist beim Lesen von Werken solcher Schriftsteller (wobei er auch erfolgreich als Musiker, Drehbuchscheiber und Journalist ist) darf der Literaturfreund nicht auf leichte Lektüre hoffen. Genau dies trifft den Punkt bei "Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford". Zu Beginn ist in der Darstellung der Charaktere noch eine leichte Prise Humor - oder sollte ich es besser Ironie nennen? -
erkennbar, mit fortschreitendem Gefühl zum Buch verliert sich dieses Gefühl. Ich habe vieles sehr, sehr ernst genommen. Der farbige Junge Henry wird eins, zwei, drei zum Mädchen Henrietta. Wie dies möglich ist - lieber Literaturfreund - lies selbst. Old John Brown, auch genannt der Alte Mann, trägt jedenfalls die Hauptlast. Womit wir bei einer der tragenden Personen der Handlung wären. Der Alte Mann ist, so entnehme ich dem Roman, der Pionier der Sklavenbefreiung im damaligen Amerika. Er ist auf seine Art verrückt, sehr gläubig, unbeirrbar bzw. stur, wenn er erst einmal einen Plan hat, und unberechenbar. Der Mann hat eine riesige Familie. Mehrere Frauen, mehr als 20 Kinder und seine Berufung alle Schwarzen aus der Sklaverei zu befreien bestimmen sein Leben.

Old John Brown plant und plant seine große Aktion der Sklavenbefreiung akribisch. Zeitnah befreit er jeden Neger, der ihm über den Weg läuft. Dabei interessiert es ihn nicht, ob dieser es als Befreiung betrachtet. Manch einer wäre zur damaligen Zeit lieber bei seinem Besitzer geblieben, wo er Essen, eine Hütte und seine Familie hatte. Old John Brown ist das egal. Der Sklave wird befreit!

Auf ähnliche Weise kommt auch Henry alias Henrietta zur Armee des Alten Mannes. In Mädchenkleidern bleibt er jahrelang bei ihm. Ob der Alte Mann weiß, dass Henrietta ein Junge ist, bleibt bis zum Schluss unklar. Mit Old Johns Armee, die durchschnittlich 25 Mann stark ist, zieht Henrietta durch das Land von Lager zu Lager. Sie (er) lernt Menschen unter- schiedlichster Charaktere kennen. Anfänglich ist ihr Handeln von Naivität geprägt. Schnell entwickelt sie (er) aber eine Menschenkenntnis, die verblüffend ist. Henrietta (Henry) durch- schaut angebliche Mitstreiter der Sklavenbefreiung schon nach kurzer Zeit. Viele bereichern sich auf Kosten der Sache. Sogar Neger, die jetzt Freie sind, nutzen die Gutgläubigkeit O. J. Browns aus. Diese Fakten ziehen sich wie ein roter Faden durch die Handlung. Der Alter Mann plant den Sklavenaufstand, Henrietta und einige Getreue helfen Geld dafür zu beschaffen, werben Helfer an und sehen am Ende alle Mittel bei einem korrupten Helfer verschwinden. Doch Old John Brown glaubt fest, dass Gott helfen wird und die Sklaven zu Tausenden kommen werden um mit ihm für die Freiheit zu kämpfen. Auch als alles verloren ist, beharrt er auf seinem Standpunkt. Während dem letzten großen Kampf, den O. J. Brown wieder mit nur ca. 30 Helfern auf seiner Seite führt, wird er gefangen genommen und inhaftiert. Henrietta gelingt mit viel Glück die Flucht. Sie taucht mit Hilfe von Anhängern der Sklavenbefreiung unter. Am Vorabend der Hinrichtung von O. J. Brown verabschiedet sie (er) sich vom Alten Mann. Beide reden nicht viel. Nach all den Jahren verstehen sie sich auch so. Der Glaube an die Notwendigkeit der Befreiung der Sklaven ist bei ihm ungebrochen. Zu Lebzeiten ist er schon eine Berühmtheit, nach seinem Tod wird er zur Legende. Obwohl all seine Bemühungen scheinbar ohne Erfolg waren, ist er der Stein, der die Befreiungsbewegung später ins Rollen brachte.

Im Nachhinein bin ich der Auffassung, dass der Alte Mann ein angeborenes strategisches Talent hatte. Mit seinen verrückten Plänen hatte er immer wieder kleine Erfolge.

Unser Henry, der zur Henrietta wurde, lernte die Nachteile des Mädchendasein, aber auch dessen Vorteile kennen. Scheinbar überwiegen die Vorteile. Angedeutet wird am Roman- ende, dass er im späteren Leben auch noch als Frau auftrat.

Der Roman hat keine besonderen Höhepunkte. Der Leser ist vielmehr aufgefordert, mitzudenken. Viele Formulierungen bzw. Beschreibungen bedürfen zum Verständnis einiger
Feinfühligkeit. Das Wollen des Lesers zum Thema des Romans Fakten zu sammeln und zu werten ist gefordert.