Gehetzt und zugleich langatmig

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oceanlover Avatar

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Ich gebe es zu - das Cover hat mich magisch angezogen und neugierig auf das Buch gemacht. Und Theater, Liebe und eine Prise Magie im elisabethanischen London? Das klang vielversprechend!

Doch nach einem atemlosen Start folgte schnell Ernüchterung - obwohl die Handlung gerade zu gehetzt wirkte, empfand ich die Kapitel als langatmig. Über die Gemeinschaft und Fähigkeiten der Aviscultarier erfuhr ich wenig bis nichts; die Figuren blieben blass und unnahbar; die Liebesgeschichte konnte mich nicht berühren - ja mehr noch, sie hinterließ ein unangenehmes Gefühl bei mir.

Mehrmals war ich kurz davor, das Buch abzubrechen. Weil ich mich durch die Seiten schleppte, nicht mitfieberte und mich allgemein unwohl fühlte. Denn was zwischen den Buchdeckeln passierte, war teilweise entsetzlich schrecklich und schockierend, aber zugleich nüchtern geschildert und dadurch wenig ergreifend. Mat Osman nimmt kein Blatt vor den Mund - was sich auch in derber Sprache äußert, die mit seinem sonst zwischen prosaisch und schwülstig oszillierenden Schreibstil stark kontrastiert. Während Shay London in all seiner Hässlichkeit liebt und Schönheit überall zu finden vermag, während wunderbar bildliche und meisterhaft formulierte Beschreibungen diese Stadt der Vergangenheit fast schon greifbar machten, riss die unhistorische Ausdrucksweise mich immer wieder aus dem verzauberten Bann. "Ficken", "pissen", "Scheiße" und "Kotze" lese ich allgemein nicht gerne und schon gar nicht in einem magisch-angehauchten historischen Roman.

Im Nachhinein bin ich dennoch froh, das Buch beendet zu haben - zum einen beeindruckte mich die Eloquenz der Beschreibungen, wie es Osman gelingt Glanz und Elend zugleich einzufangen, und zum anderen stimmte mich das Ende dann milder. Während der Tumult auf den letzten Seiten mir zu konfus war, brachte der Epilog eine wohlwollende Stille, ein erleichtertes Aufatmen. Und einen der wenigen Momente, in denen ich Anteilnahme mit den Figuren und dem Geschehen fühlte. Schade, dass das nicht öfter passierte!

Überhaupt - die Geschichte hätte so großartig sein können; ein faszinierendes und schillerndes Setting, moralisch graue Figuren und Entscheidungen, ein Hauch von Magie und Übernatürlichem und mit Shay eine Protagonistin, die sich und ihren Weg - tastend und mit Rückschritten - finden muss. Mir fehlte jedoch der rote Faden; die Handlung mäanderte vor sich hin, Szene reihte sich an Szene und ich war bestürzt, aber nicht ergriffen.

Es bleiben auch etliche offene Fragen, denn obwohl das Buch verhältnismäßig lang ist, fehlte es mir an Worldbuilding - gerne hätte ich mehr über Shays Gemeinschaft und ihre Visionen erfahren. Zu beidem bekam ich nur Krumen hingeworfen, vage Andeutungen. Und auch der historische Kontext hätte für mich einer Einordnung bedurft - gerne eine Zeittafel oder zumindest ein Nachwort zu den wahren Ereignissen und realen Figuren. So blicke ich auf das Gelesene mit allerhand Zweifeln, weil doch vieles zu fantasievoll und dramatisch erscheint. Überhaupt; das Genre - sogar auf das Cover ist historischer Roman aufgedruckt, ich sortiere das eher als Jugendbuch mit historischem Setting und paranormalen Elementen ein.



FAZIT: Konnte mich über lange Strecken nicht packen und riss mich mit vulgären Ausrücken immer wieder aus dem Sog der ansonsten so anmutigen Beschreibungen. Plot und Setting haben viel Potential, das in meinen Augen nicht ausgeschöpft wurde.