Warmherziges Plädoyer für den Artenschutz

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christian1977 Avatar

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1741, irgendwo in der Nähe Kamtschatkas: Als der Naturforscher Georg Wilhelm Steller auf der gemeinsamen Expedition mit Kapitän Vitus Bering ein Lebewesen erblickt, das er noch nie zuvor gesehen hat, traut er seinen Augen kaum. Das gutmütige und friedfertige Tier verhält sich innerhalb seiner Familie äußerst sozial. Steller beobachtet, forscht und lässt dazu auch Tiere töten. Er ahnt noch nicht, dass dieses Tier Jahre später nach ihm benannt und "Stellersche Seekuh" gerufen werden wird. Doch nur 27 Jahre nach der Entdeckung ist das letzte Kapitel des Tieres auch schon wieder geschrieben, Pelztierjäger erschlagen wohl 1768 das letzte Exemplar in der Nähe der Beringinsel.

Über Leben und Tod, Vergänglichkeit und Verantwortung und vor allem über einen respektvollen Umgang mit der Natur schreibt Iida Turpeinen in ihrem Debütroman "Das Wesen des Lebens", der in der Übersetzung aus dem Finnischen von Maximilian Murmann bei Fischer erschienen ist. In der Heimat wurde er zu einem großen Überraschungserfolg und wird derzeit in über 20 Sprachen übersetzt, wie wir im Klappentext erfahren.

Die Erzählung streckt sich dabei über 280 Jahre und wechselt mehrfach die Hauptfiguren und Perspektiven, während die Seekuh stets ihr verbindendes Element bleibt. Bemerkenswert sind dabei nicht nur die große naturwissenschaftliche Fachkenntnis von Iida Turpeinen und ihre Akribie, sondern auch die unendlich scheinende Empathie, die die Autorin der Tierwelt und dabei insbesondere der Stellerschen Seekuh entgegenbringt. Fast entlarvend wirken die Beschreibungen von Mensch und Tier.

Während die menschlichen Figuren nämlich vielleicht mit Ausnahme des Restaurators John Grönvall eher blass bleiben, beschreibt Turpeinen fast überschwänglich das Wesen der Seekuh, ihre Spiele, ihr Gemüt, aber auch ihr Leid. Das ist einerseits ein Plus des Romans, andererseits aber auch ein Wermutstropfen. Denn während man mit Gänsehaut und Rührung den Tierbeschreibungen folgt, stellt sich zu den menschlichen Charakteren kaum einmal so etwas wie eine nähere Bindung ein.

Das liegt natürlich auch daran, dass "Das Wesen des Lebens" den Menschen - vollkommen zurecht - als das Raubtier schlechthin beschreibt. Es ist der Mensch, der mit seinen Taten zum Großteil das Artensterben erst ermöglicht hat. In einem Abschnitt, der im 19. Jahrhundert spielt, mögen die Figuren nicht daran glauben, dass der Mensch selbst für das Aussterben der Stellerschen Seekuh gesorgt hat - kein Meteorit, die Eiszeit oder irgendein anderes Wetterphänomen. In der wohl stärksten und bewegendsten Szene des gesamten Buches stellt sich der oben genannte Grönvall die zutiefst moralische Frage, ob neben den Jägern nicht auch die Forschung ihren Anteil am Artensterben hat. Vogelfreund Grönvall, der "aus wissenschaftlichem Interesse, [...] im Herzen nichts als Liebe für die Vögel" Tiere getötet und Eier gestohlen hat, stellt sich inmitten seiner wissenschaftlichen Sammlung und bedauert: "Was für ein Schwarm daraus entstanden wäre...". Hier paart sich merklich der Schmerz der Figur mit dem der Autorin, der sich zudem unmittelbar auf die Leserschaft überträgt.

"Das Wesen des Lebens" verbindet Wissenschaft und Literatur in deutlich stärkerem Maße, als es beispielsweise Olli Jalonens "Himmelskugel" oder auch Christopher Kloebles "Museum der Welt" taten. Dadurch ist der gut 300 Seiten umfassende Roman einerseits authentischer, verzettelt sich bisweilen aber auch erzählerisch ein wenig. So wirkt der manchmal berichtsartige Stil durchaus ermüdend, wozu auch der komplette Verzicht auf direkte Rede beiträgt. Insgesamt ist Iida Turpeinens Debüt aber gerade für Tierfreund:innen ein lesenswerter Roman - und dabei nicht weniger als ein warmherziges Plädoyer für den Artenschutz.