Brutaler Coming-of-Age Roman

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„Ich regte mich nicht darüber auf. Ich nahm es damals als gegeben hin, dass ein Junge mehr wert war als ein Mädchen und es Bereiche gab, zu denen ich keinen Zutritt hatte. Das war normal, so war es eben, wahrscheinlich war es genetisch vorbestimmt, sagte ich mir. Marie Curie konnte ich mir schließlich auch nicht mit einer AK-47 in den Händen vorstellen.“

Die Protagonistin der Geschichte ist zu Beginn des Romans zehn Jahre alt. Zusammen mit ihrem sechsjährigen Bruder Gilles wächst sie in einem trostlosen, grauen Wohnviertel auf, als Tochter eines Vaters der Jagdtrophäen sammelt und in regelmäßigen Abständen seine aufgestaute Wut an seiner Frau auslässt. Nach einem tragischen Unfall, der den Eismann des Viertels das Leben kostet, gerät auch der traumatisierte Gilles immer tiefer in eine Spirale aus Sadismus und Gewalt. Während die Atmosphäre im Haus der Familie immer bedrückender, die Angriffe auf die Mutter und letztendlich auch die Protagonistin immer brutaler werden, vergräbt sich die Protagonistin immer tiefer in die Physik – in der verzweifelten Hoffnung mit der Hilfe einer Zeitmaschine zumindest ihren kleinen lustigen, gutmütigen Bruder retten zu können.

Die Geschichte wird komplett aus der Perspektive der Protagonistin erzählt, der die Leser im Laufe des Romans beim Erwachsenwerden zusehen. Die Sprache der Erzählerin hat mich dabei sehr schnell in den Bann gezogen – auf der einen Seite relativ kindlich und teilweise naiv, wie man bei einer Zehnjährigen erwarten würde, gleichzeitig sehr sachlich, distanziert und desillusioniert. So wird die Ausweglosigkeit der häuslichen Situation auch immer wieder sprachlich untermalt.
Der Roman liest sich leicht – ich habe das Buch innerhalb eines Tages inhaliert – trotzdem sollte man definitiv keine leichte Lektüre erwarten. Die sehr sachliche Schilderung von Bedrohung und Gewalt hat mich doch in ihrer Brutalität überrascht.
Adeline Dieudonné hat sich mit ihrem Debüt in Frankreich direkt auf die Bestsellerliste geschrieben. Man kann ihrem Buch also auch in Deutschland nur viele Leser wünschen.