Der Opferrolle entwachsen

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gormflath Avatar

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Das zehnjährige Mädchen wohnt mit ihrem kleinen Bruder Gilles und den Eltern in einer Reihenhaussiedlung am Waldrand. Es könnte alles normal sein, wenn der Vater neben seinen Leidenschaften fürs Fernsehen und Whisky nicht auch noch den Rausch der Jagd lieben würde. Daher ist das vierte Zimmer im Haus das Zimmer der Kadaver. Dort sammelt der Vater seine ausgestopften Tiere, die er selbst erlegt hat: Wildschweine, Antilopenschädel, Wasserböcke, Gnus, ein paar Zebraköpfe und schließlich die Hyäne – ausgestopft zwar, aber das Mädchen ist überzeugt, dass sie lebt und den Schrecken aller, die sie anzuschauen wagen, still genießt.
Nur das Lachen ihres kleinen Bruders kann das Mädchen erfreuen, bis eines Abends vor den Augen der beiden Kinder ein tragisches Unglück geschieht. Danach ist nichts mehr wie zuvor, Gilles lacht nicht mehr und das Mädchen kommt nicht mehr an ihn heran.
Von den Eltern ist keinerlei Hilfe zu erwarten, denn der Vater sinnt auf Rache, wo er nur kann. In seinen schlechten Phasen muss die schwache Mutter daran glauben, regelmäßig fällt er über sie her und prügelt sie bis zur Bewusstlosigkeit.
Das Mädchen setzt alles daran, ihren Bruder vor dem väterlichen Einfluss zu retten, was sich als sehr schwierig erweist. Der Vater bringt seinem kleinen Sohn das Schießen bei und nimmt ihn mit auf die Jagd, bei dem kleinen Gilles wächst – zumindest anfangs – der Stolz. Aber das Mädchen ist eine mutige Kämpferin, sie steckt voller Energie und Intelligenz, und sie lässt sich in keiner Situation unterkriegen. Selbst als der Vater sie bei einer Treibjagd zur Beute erklärt, spürt sie ihre Kraft und ihre geheime Macht wachsen. Von Sommer zu Sommer wird das Mädchen selbstbewusster, immer deutlicher spürt sie, dass sie die Zukunft in sich trägt und diese beeinflussen kann. Auch ihr Körper verändert sich, mit der wachsenden weiblichen Reife erwacht in ihr das Begehren, und so gerät sie immer mehr ins Visier des Vaters.
Das Unglück am Ende wird zum Glück für die Familie, durch ihre innere Stärke hat sich das Mädchen aus der Opferrolle befreit und eine Zukunft geschaffen.
Der im Original 2018 erschienene Roman wurde zu Recht bereits mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet.
Adeline Dieudonné gelingt es, in ihrer eindringlichen und kraftvollen Sprache von der ersten Seite an zu begeistern. Sie erzählt die Geschichte aus der Sicht des Mädchens. Auch wenn die Hintergründe düster sind, strahlt der kompromisslose Schreibstil immer Hoffnung aus, das lässt beim Lesen nicht unberührt und man fiebert von Seite zu Seite mit, wie es ihr wohl gelingen mag, nicht nur sich selbst, sondern auch den Bruder und die Mutter zu retten.
Die Leseprobe deutete für mich zunächst auf einen sexuellen Missbrauch in der Familie hin. Umso angenehmer überrascht war ich, als der Roman beim Lesen mit einer Wucht das Mädchen über sich selbst hinauswachsen ließ.

Der Verlag wirbt auf dem Cover des Leseexemplar mit dem Slogan „Liebling der französischen Buchhändlerinnen“ - ich halte ein Debüt gelesen, das mich mehr in seinen Bann gezogen hätte!