düsterer aber grandioser Coming-of-Age-Roman

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thrilltastisch Avatar

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Der Vater liebt Whisky und Fernsehen, die Mutter liebt ihre Haustiere ... und die Kinder bleiben außen vor.
Die namenlose Ich-Erzählerin blickt zurück auf eine Zeitspanne ihres Lebens, die beginnt, als sie zehn Jahre alt und ihr kleiner Bruder Gilles ihre ganze Welt ist.
Die beiden sind aufgrund des zerrütteten Elternhauses eng miteinander verbunden. Um dem psychischen und physischen Terror zu entgehen, den der Vater an seiner Familie auslebt, halten sie sich viel in ihrem Viertel auf und spielen gemeinsam. Doch eines Tages müssen sie einen schrecklichen Vorfall miterleben und Gilles zieht sich immer mehr in sich zurück. Den seelischen Verfall des Jungen bemerkt nur seine Schwester und sie nimmt sich vor, ihn zu retten. Wir verfolgen ihr Leben über fünf Sommer hinweg und erleben ihre Entwicklung vom Kind zur jungen Frau. Sie fasst Selbstbewusstsein, wird immer stärker und selbstständiger und beginnt, sich aus ihrem bedrückenden Leben herauszukämpfen.
Alle Charaktere sind unheimlich authentisch gezeichnet, nur die Protagonistin benahm sich für mein Empfinden an mancher Stelle zu reif für ihr Alter, an anderer Stelle zu unreif. Später, als sie zu einer Jugendlichen heranwächst, bessert sich das. Zum Teil ist dieser Eindruck der frühen Reife auch der Tatsache geschuldet, dass die Geschichte rückwirkend erzählt wird.
Besonders gefällt mir die Mutter, die keinerlei Kraft besitzt, für sich selbst einzustehen, geschweigedenn für ihre Kinder, und ihre Unfähigkeit, eine gute Mutter zu sein, kompensiert, in dem sie die wenige Leidenschaft, die aufbringen kann, in ihre Haustiere und den Tierschutz steckt.
Der Vater wirkt trotz all der Grausamkeit, mit der er seiner Familie begegnet, dennoch wie ein Mensch. Keine Figur ist hier schwarz-weiß gezeichnet. Selbst die Hauptperson tut Dinge, die moralisch betrachtet diskussionswürdig sind, dennoch folgte ich ihr gerne durch ihre Geschichte. Ich konnte immer nachvollziehen, warum sie so handelt, wie sie handelt, völlig egal, wie ich persönlich dazu stehe.
Die Autorin hat oberflächlich betrachtet einen einfachen, gut zu lesenden Schreibstil, der aber mit vielen großartigen Stilmitteln gespickt ist. Sie verwendet tolle Symbolik und treffende Metaphern und hat ein feines Gespür dafür, Gefühle und Details auf den Punkt zu bringen und Atmosphäre zu beschreiben.
Das Ende gestaltet sich ein wenig anders, als ich es erwartet hatte, aber es ist ein passender Abschluss für diese Geschichte.
Wer mit expliziter Gewaltdarstellung gegen Mensch und Tier nicht umgehen kann, sollte die Finger hiervon lassen. Ich aber bin überzeugt von diesem Werk und meine kleinen Kritikpunkte bringen mich nicht davon ab, »Das wirkliche Leben« von Adeline Dieudonné mit 5 Sternen zu bewerten.