Erbarmungslos und abgestumpft

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Wir begegnen in diesem Buch einer Familie, in der das Zusammenleben auf falschen Bahnen läuft. Der Vater, Buchhalter in einem Vergnügungspark, liebt die Jagd und den Whisky, aber leider nicht seine Familie, was seine Frau hautnah zu spüren bekommt. Die Mutter, Hausfrau, liebt ihre Tiere und bringt hier deutlich mehr Fürsorge auf als für die Menschen um sie herum, sie fügt sich in ihre Opferrolle. Das Mädchen, überdurchschnittlich begabt, sieht ihre Mission darin, ihren jüngeren Bruder Gilles bei Laune zu halten und ihm die von den Eltern vorenthaltene Zuneigung zu schenken.
Zunächst fand ich das Mädchen genial, denn sie war die einzige in der Familie, die sich nach einem tödlichen Unfall des Eismannes, den ihr kleiner Bruder miterlebte, um ihn kümmerte, ihn ablenken wollte und versuchte, seinen Schockzustand zu durchbrechen. Ich hielt sie für stark und empathisch, was sich später aber wandelte in eine gehörige Portion Egoismus und Gleichgültigkeit. Sie beobachtet sehr viel Unrecht, unternimmt aber nichts dagegen, obwohl sie meiner Meinung nach geistig dazu in der Lage wäre. Sie sieht, dass ihr Bruder Tiere quält, unternimmt aber nichts. Sie sieht die Ungerechtigkeit, die ihrer Mutter widerfährt, steht ihr aber nicht bei, sondern sieht in ihr nur eine stumpfsinnige Amöbe. Als sie dann schließlich noch einen jungen Familienvater verführt, war meine Bewunderung ganz dahin, so dass ich mich schließlich fragte, ob dies noch realistisch ist....
Zweifel an der Nachvollziehbarkeit der Geschichte kamen mir auch in anderen Szenen des Buches, besonders als das Mädchen selbst in die Opferrolle fällt. Die geschilderten Grausamkeiten fand ich äußerst brutal und skrupellos, teilweise regelrecht blutrünstig. Für meinen Geschmack zu viel! Hier hätte ich mir auch gefühlsmäßig mehr Tiefgang gewünscht, denn es kann doch nicht sein, dass ein verletzter und gedemütigter Teenager gleich am nächsten Tag wieder zum Alltag zurückkehrt und von einer Zeitmaschine träumt. Schließlich ist mir auch die Symbiose zwischen Gilles und der ausgestopften Hyäne zu abstrus.
Der Schreibstil ist flüssig, aber irgendwie bedrückend, was in großartiger Form die Trostlosigkeit der Gesamtsituation ausdrückt. Allerdings fand ich manche Wörter abstrus, z.B. 'Geschmeiss im Kopf', was nicht zu meinem Sprachgebrauch gehört. Vielleicht ein Problem der Übersetzung?
Eine weitere Stärke der Autorin liegt darin, Atmosphäre zu schaffen: im dunklen Wald hört man regelrecht die angstvollen Herzschläge und sieht die unheilvollen Erscheinungen, am Abendessentisch fühlt man die angespannte Stimmung usw. Auch in das niederdrückende Gefühl im Kadaverzimmer konnte ich mich gut hineinversetzen.
Alles in allem habe ich das Buch zwar mit Spannung gelesen, fand aber einige Szenen zu brutal und unrealistisch, so dass ich es nur eingeschränkt empfehlen kann.