Grandios, ergreifend und hammerhart

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takabayashi Avatar

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Wirklich ein ganz hervorragender Roman, wunderbar geschrieben - und doch nichts, was ich gleich noch einmal lesen möchte. Denn es geht um die harte Realität einer dysfunktionalen Familie mit einem gewalttätigen Vater. Auch wenn das Ende zufriedenstellend ist und ein gewisser Abschluss zu spüren ist, so bleibt doch der bittere Nachgeschmack über diese unsäglichen Lebensumstände.
Berichtet wird über dieses Leben von einem zehnjährigen Mädchen. Die Ich-Erzählerin beschreibt, wie sich bei ihrem Vater über einen längeren Zeitraum eine solche Wut anstaut, dass er sie irgendwann nicht mehr zurückhalten kann und dann an der Mutter auslässt. Nur wenn er zwischendurch Reisen macht, bei denen er seinem Hobby, der Großwildjagd frönen kann, gelingt es ihm, eine längere Zeit friedlich zu bleiben.
Ihre Mutter beschreibt das Mädchen als "Amöbe", als ein willenloses Wesen, das stumm duldet und sicht bemüht, nicht aufzufallen. Von beiden Eltern können die Kinder keine Herzlichkeit und Wärme erwarten. Der einzige Sonnenschein im Leben des Mädchens, dessen Namen wir nicht erfahren, ist ihr kleiner Bruder Gilles, dessen Milchzahnlächeln ihr das Herz erwärmt. Ihre Mission im Leben ist es, diesen Bruder zu beschützen.
Sie und ihr Bruder werden Zeuge eines scheußlichen Unfalls und von da an verändert sich der kleine Bruder, er zieht sich zurück, wird verschlossen, lächelt nicht mehr und gerät allmählich unter den Einfluss des Vaters.
Das Mädchen tut nun alles, was sie kann, um sich und ihren Bruder aus dem Einflussbereich des Vaters zu entfernen. Sie ist stark, hochintelligent, interessiert sich besonders für Physik und flüchtet sich in ihre Lehrbücher. Sie schafft sich eine eigene Gegenwelt, die sie vor der Familie verbirgt. Sie befreundet sich mit Leuten, die sie als "normal" ansieht - einer freundlichen älteren Nachbarin, die ihr von Marie Curie erzählt, einem netten jungen Nachbarsehepaar, bei denen sie als Babysitter arbeitet, einem emeritierten Professor, der ihr Privatstunden in Physik gibt.
Die Geschichte wird über einen Zeitraum von 5 Jahren erzählt, das Mädchen kommt in die Pubertät und bekommt allmählich weibliche Rundungen, wodurch sie nun auch ins Opferschema ihres Vaters passt. Ich will das Ende der Geschichte nicht spoilern, aber jedenfalls entwickelt das Buch gegen Ende einen immer stärkeren Sog, so dass ich es gar nicht mehr aus der Hand legen konnte.
Die Protagonistin dieser besonderen Coming of Age Story, ist eine starke Persönlichkeit, die sich mit ihren Mitteln zur Wehr setzt. Der Schreibstil ist beeindruckend, die Ich-Erzählerin beweist größere Reife, als ihrem Alter entsprechen würde, die Art, wie sie ihre Familie analysiert ist erstaunlich klar und ich stand immer voll hinter ihr, habe mit ihr mitgefiebert. Und obwohl es um deprimierende Lebensumstände geht, ist das Buch doch nicht deprimierend, sondern hoffnungsvoll.
Ein formidabler Debutroman von einer Autorin, von der man mit Sicherheit noch einiges hören wird. Unbedingte Leseempfehlung!