Grausam und schön

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„Eine Coming-of-Age-Geschichte um ein Mädchen, das sich aus der weiblichen Opferrolle befreit.“ So preist der Verlag das Debüt von Dieudonné an. Während der erste Teil stimmt, finde ich nicht nur das Wording der „weiblichen Opferrolle“ kritisch. Denn die junge Protagonistin ist an keinem Punkt des Romans ein Opfer. Vielmehr überblickt sie die familiäre Situation mit einem scharfen Verstand. Der Vater, ein passionierter Jäger, kann beim kleinsten Fehler explodieren und lässt seine Wut (noch) vorwiegend an seiner Frau ist, die sich weitestgehend aufgegeben hat. Liebe verspürt die Protagonistin nur zu ihrem kleinen Bruder Gilles, dessen Lächeln die Sonne aufgehen lässt. Doch dieses Lächeln verschwindet nach einem grausamen Vorfall. Stattdessen nistet sich in Gilles‘ Kopf das Böse ein, genährt vom gewalttätigen Vater. Seine Schwester versucht alles, damit sein wirkliches Leben, beginnen kann. Sie möchte eine Zeitmaschine bauen. Als das nicht funktioniert, wendet sie sich der Physik zu. Die Not macht sie im wahrsten Sinne des Wortes erfinderisch. Aber wie lange kann sie ihre Passion, die sich nicht nur auf die Naturwissenschaften richtet, vor ihrem Vater verbergen? Dieudonné zeichnet ein eindrucksvolles Bild einer von der Gewalt zerrütteten Familie. Dabei werden einige Szenen sehr grafisch geschildert. Wer also selbst Gewalt erlebt hat oder generell nicht gerne darüber liest, sollte dieses Buch vielleicht lieber beiseitelegen. Allerdings zeigt Dieudonné auch, dass es in all dem Grauen noch Momente des Glücks geben kann und dass diese einen aufrechterhalten können. Die namenlose Protagonistin lässt sich nicht unterkriegen und versteht mit einer großen Klarsicht, warum die Verhältnisse in ihrer Familie so sind. Dabei verwendet die Autorin eine ebenso klare Sprache, die vor dem inneren Auge all das Geschilderte entstehen lässt - im Guten wie im Schlechten. Man beginnt, mitzufiebern und in vielen Kapiteln springt einem der Schock entgegen. Eine Leseempfehlung, die aber nicht für jede*n geeignet ist.