Jäger und Gejagte

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„Denn das Leben war nun mal eine Ladung Fruchtpüree in einem Mixer und man musste aufpassen, in dem Strudel nicht von den Klingen nach unten gezogen und zerkleinert zu werden.“

Mutter, Vater und zwei Kinder. Eine beschauliche Wohnsiedlung am Stadtrand. Ein Eigenheim und finanzielle Unabhängigkeit. Eigentlich könnte alles so schön sein. Aber das wäre natürlich zu einfach.

Der „Liebling des französischen Buchhandels“ wirkt niedlich mit dem pinken Hasen auf dem Cover, seine Schrift im Kontrast dazu jedoch leicht verstörend. Es ist ein Versprechen an die Leser*innen, das ich mir beim Lesen noch einige Male ins Gedächtnis rufen sollte. Lange habe ich daher überlegt, wie ich mich diesem Buch nähern, ihn gar rezensieren könnte und ich fühle mich diesem Einstieg verpflichtet:

[TRIGGER-WARNUNG//HÄUSLICHE GEWALT]

„Das wirkliche Leben“ beginnt mit einem ganz normalen Familienalltag: die namenlose Ich-Erzählerin ist gerade 10 Jahre alt, ihr Bruder Gilles ein paar Jahre jünger. Die beiden spielen im „Galgenwäldchen“ direkt hinter dem Haus, stromern über den naheliegenden Schrottplatz und besuchen ihre gemeinsame Freundin Monica. Die Idylle kippt mit dem Heimkommen der Kinder, während des gemeinsamen Abendessens: Der Vater, ein alkoholsüchtiger, jagdbesessener und brutaler Choleriker, vergreift sich an der Mutter und prügelt sie, wenn die Machtspiele und das Verhöhnen nicht mehr ausreichen, regelmäßig grün und blau – auch in Anwesenheit der Kinder.

Zurückgezogen in ihre eigene Welt, aber immer füreinander da, überstehen sie die grausame Realität, der sie ausgesetzt sind. Nach einem furchtbaren Unglück ändert sich jedoch alles. Traumatisiert und hilflos zurückgelassen, versuchen die Kinder das Geschehene zu verarbeiten – jedes auf seine eigene Weise.

Adeline Dieudonnés Debüt riss mich mit einer Wucht nieder, dass ich Mühe hatte das Gelesene zu verarbeiten und mich von den Ereignissen emotional zu erholen. Ich konnte den Roman nicht aus der Hand legen, obgleich einige Passagen mit einer derartigen Wucht in meine Eingeweide schlugen, dass ich mich am liebsten übergeben hätte. Gleichzeitig war ich gefesselt, ja regelrecht gebannt, von diesem Mädchen und ihrer Befreiung aus einem Leben, in dem ihr die Rolle eines Opfers zugedacht war, welche sie mitnichten auch nur für einen Tag erfüllt hat.

Ein Roman von erzählerischer Gewalt: roh, direkt und prägnant, geschrieben in funkelnder Sprache aus der offen bissig und sarkastischen Perspektive eines heranwachsenden Kindes. Eine Geschichte, die ich gern empfehle – für alle, die sie aushalten können.