Hochspannung aus Italien

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mayakoenigin Avatar

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Marco De Franchi legt mit dem Buch "Das zweite Kind" einen beeindruckenden "Thriller" vor, der auf umfangreichen 666 Seiten einen komplexen, finsteren Fall entfaltet. Dabei beginnt die Geschichte mit der Entdeckung eines kleinen, nackten Jungen, der seinen Entführer entkommen konnte. Kurz darauf verschwindet ein weiterer Jung, der dem gefundenen Jungen auffallend ähnelt, was sofort für eine düstere Spannung sorgt. Doch statt rasantem Actionkino erwartet den Leser eine intensive Reise durch die komplexen Abläufe der Ermittlungsarbeit. Die Handlung ist düster und voller Wendungen, gleichzeitig führt jede neue Erkenntnis tiefer in menschliche Abgründe und unerwartete Verstrickungen.

Im Mittelpunkt steht Valentina Medici, eine brillante und außergewöhnlich charismatische Ermittlerin, die sich mutig und mit analytischem Scharfsinn an die Lösung des Falls wagt. Valentina ist eine faszinierende Protagonistin, die nicht nur durch ihre berufliche Kompetenz überzeugt, sondern auch durch ihre innere Zerrissenheit und persönliche Verletzlichkeit. Dabei begleitet man sie die ganze Zeit bei der Jagd nach der Wahrheit. Als Leser bekommt man Einblicke in ihre Gedanken und Konflikte, die zeigen, wie sehr dieser Beruf sie fordert und formt.

Dabei wird Valentina von einem Team unterstützt, das mit facettenreichen Charakteren besetzt ist und die Geschichte lebendig werden lässt. Besonders intensiv gestaltet sich ihre Beziehung zu Fabio Costa, einem weiteren wichtigen Ermittler, dessen Sicht man später ebenfalls verfolgt. Die Zusammenarbeit zwischen Valentina und Fabio ist von einer komplexen, unausgesprochenen Anziehung geprägt, die eine ganz eigene Spannungsebene in die Handlung bringt. Fabio und Valentina scheinen gegenseitig Bewunderung und eine leise, nicht immer eindeutige Zuneigung zu empfinden, die über das rein Berufliche hinausgeht. Die beiden unterstützen sich nicht nur, sondern stehen auch in subtiler Konkurrenz zueinander, was ihre Dynamik lebendig und authentisch macht. Doch ihre Beziehung wird durch die Intensität des Falls oft an den Rand gedrängt – was der Geschichte eine emotionale Tiefe verleiht. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die düstere Vergangenheit von Fabio, die immer wieder zum Gesprächsthema wird.

Auch wenn der Fall manchmal mehr Fragen als Antworten aufwirft, bleibt man gefesselt und fiebert mit den Ermittlern mit. Die Kapitel sind kurz und enden oft mit einem Cliffhanger, was den Lesefluss beschleunigt und es schwer macht, das Buch zur Seite zu legen. De Franchi weiß, wie er die dunkle Atmosphäre verstärkt, indem er die Perspektive wechselt und immer neue Details enthüllt, die den Fall komplexer und verstörender machen. Nach und nach wechselt die Erzählperspektive hin und wieder zur Sicht des Täters, wodurch ein tiefes, beklemmendes Verständnis für dessen Beweggründe und Gedankengänge entsteht, die den Leser zugleich faszinieren und abstoßen.

Die Handlung selbst ist packend, mit einem konstanten Spannungsbogen und zahlreichen Überraschungen, die immer wieder neue Perspektiven auf den Fall werfen. Dabei werden immer neue Hinweise und Wendungen eingestreut. Doch gerade hier liegt meine Kritik. Denn obwohl das Buch viele Qualitäten hat, bleibt es in einigen Bereichen hinter den Erwartungen zurück, da der Roman in vieler Hinsicht eher die Struktur eines klassischen Krimis verfolgt. Anders als typische Thriller mit hoher Geschwindigkeit und unmittelbarem Bedrohungsgefühl, legt es seinen Fokus klar auf die nüchterne Darstellung der Ermittlungsarbeit. Der Leser folgt den Polizisten durch bürokratische Abläufe, sieht sie in stundenlangen Analysen, die zum Teil durch KI durchgeführt werden, und erlebt die internen Spannungen im Team hautnah mit. Dieser sachliche Stil lässt den Roman teils fast dokumentarisch wirken, was zwar für Authentizität sorgt, aber das typische Hochspannungsgefühl vieler Thriller mindert. Die Spannung entsteht hier eher durch atmosphärische Dichte als durch unmittelbare Gefahr. Wer also - so wie ich - auf einen nervenaufreibenden Thriller hofft, könnte hier enttäuscht werden, da die Handlung nur selten bedrohliche, hochintensive Momente aufweist.

Zudem ist der Roman teils mit Charakteren überfrachtet, was den Überblick erschweren kann. Die Vielzahl an Informationen und Namen lässt die Geschichte manchmal schwerfällig erscheinen und das Tempo stocken. Obwohl der Ansatz des Autors, die Ermittlungen detailliert darzustellen, die Authentizität und Komplexität des Falls unterstreicht, hätte eine straffere Erzählweise in manchen Momenten die Spannungsschraube deutlich anziehen können. Anders als bei Autoren wie Sebastian Fitzek, der auf klare, scharfkantige Spannungsbögen setzt, tendiert De Franchi dazu, das Geschehen auszudehnen und immer mehr Details einzufügen, die gelegentlich das Tempo bremsen. Das macht das Buch sehr langatmig. Vielleicht waren es hier ein paar Wendungen zu viel.

Abschließend kann man aber festhalten, dass "Das zweite Kind" dennoch ein guter Roman ist, der durch seine düstere Atmosphäre und authentische Charaktere überzeugt. Marco De Franchi schafft es, eine intensive, oft beklemmende Stimmung zu erzeugen, die dem Leser das Gefühl gibt, mitten im Ermittlungsprozess zu stehen. Valentina Medici und Fabio Costa sind beeindruckende, vielschichtige Figuren, deren Beziehung eine emotionale Ebene in den Fall bringt, ohne sich aufdringlich in den Vordergrund zu drängen. Auch die Schilderung des Täters sorgt für beklemmende Einblicke, die das düstere Bild vervollständigen.

Für Krimiliebhaber, die Wert auf eine realistische Darstellung der Polizeiarbeit legen und an einer intensiven, psychologisch komplexen Erzählweise interessiert sind, bietet es eine außergewöhnliche Leseerfahrung. Wer jedoch auf Hochspannung und unmittelbare Bedrohung hofft, könnte enttäuscht sein, da der Autor einen ruhigen, fast sachlichen Erzählstil bevorzugt. Da mich Letzteres persönlich mehr anspricht, hatte ich zwischendurch dennoch einige Schwierigkeiten mit dem Buch.